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Rassismus brachte Bub ins Gefängnis

Ein unschuldiger Kuss kann ein Staatsverbrechen sein, zumindest konnte er das vor einem halben Jahrhundert im - teils noch heute - rassistisch geprägten Süden der USA. Unter einem harmlosen Spiel vor 56 Jahren leidet eine Familie in North Carolina noch heute.

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„Eigentlich wollte ich damals alles andere als ein Mädchen küssen, bääaah“, so James Thompson heute. Doch an einem Nachmittag vor 56 Jahren wollte eines der Mädchen aus der Kindergruppe etwas machen, was sie im Fernsehen gesehen hatte: „Zum Abschied küsst man sich auf die Wange.“ Jeder tat es und vergaß es schnell. Das Problem: Es war der Süden der USA in den 50ern, das Mädchen war weiß und Thompson schwarz. Und so zerstörte ein Kuss unter Kindern das Leben einer ganzen Familie.

Mit neun Jahren im Gefängnis

„Mein Freund und ich hatten das schon vergessen. Plötzlich kommt der Sheriff, schmeißt uns auf die Kühlerhaube seines Autos und fesselt uns“, sagt Thompson heute über den Oktobertag 1958 in Monroe, North Carolina. „Wir landeten hinter Gittern, und meine Mutter hatte keine Ahnung, wo wir waren. Und ich war gerade neun und mein Freund sogar erst sieben. Gott, wir haben geheult wie die Schlosshunde.“

Anfangs wusste er nicht einmal, was ihm vorgeworfen wurde, und die beiden Kinder hätten es sowieso nicht verstanden: Vergewaltigung. Denn das Mädchen hatte zu Hause stolz von dem Kuss erzählt, und als der Vater von den beiden schwarzen Buben hörte, rastete er aus, packte seine Schrotflinte und rannte los. Es war fast ein Glück für James und David, dass der Sheriff sie früher fand.

„Wir saßen in einer Kellerzelle und wurden immer wieder geschlagen“, sagt Thompson. „Das Schlimmste war aber, dass wir beiden völlig hilflos waren. Kein Anwalt, nicht einmal unsere Mütter durften zu uns. Dann hieß es: Strafanstalt wegen Belästigung, bis wir 21 sind. Verdammt, ich war neun!“

Weltweite Solidarität

In der Zelle wurde beiden immer wieder mit der baldigen Hinrichtung gedroht. Draußen setzte der Terror der Familie zu. Thompsons Mutter, eine alleinerziehende Frau mit acht Kindern, wurde bedroht und angespuckt. Der rassistische Ku-Klux-Klan zeigte sich demonstrativ und zündete mehrfach Kreuze vor dem Haus an.

Nach Wochen bekam eine englische Journalistin eine Besuchserlaubnis. Sie nahm die Mütter einfach mit und fotografierte heimlich, wie die Frauen ihre verängstigten Kinder umarmten. Die Bilder lösten einen Proteststurm aus. „England, Niederlande, Frankreich, Spanien; von überall her kamen mehr als 10.000 Briefe für unsere Freilassung“, sagt Thompson grinsend. Selbst der Vatikan und die frühere First Lady Eleanor Roosevelt setzten sich ein. „Wir waren doch nur zwei kleine Buben. Und plötzlich standen wir im Zentrum der Weltpolitik.“

„Es hat unsere Familie fast kaputtgemacht“

Doch auch Weihnachten verbrachten die beiden noch in der Zelle. Erst im Februar 1959, nach mehr als drei Monaten, klopfte es bei Evelyn Thompson an der Tür und ihr Sohn wurde ihr „zum weiteren Gewahrsam“ übergeben, wie es gönnerhaft hieß. Eine Entschuldigung gab es nie.

„Es hat unsere Familie fast kaputtgemacht“, sagt James’ kleiner Bruder Dee. „Meine Mutter hatte bis zu ihrem Tod Angst um ihre Kinder. Aber sie war auch stolz. Dass er durchgehalten hat - und wegen der weltweiten Solidarität.“ Gesprochen wurde in der Familie über den Fall fast nie. James selbst sagt: „Ich spüre es alles noch bis heute.“

„The Kissing Case“ wird heute von Jurastudenten behandelt und ist Teil der Ausstellung im neu überarbeiteten Bürgerrechtsmuseum in Memphis, Tennessee. James war da und hat sie sich angesehen. „Ich bin stolz auf dieses Land“, sagt er. „Stolz darauf, dass es sich der Vergangenheit stellt und auch dass es einen schwarzen Präsidenten wählen konnte. Man muss ihn nicht mögen, aber er wurde gewählt. Und wer das damals erlebt hat, weiß, was das heißt.“

Chris Melzer, dpa