Themenüberblick

„Könnte Sex und Gewalt enthalten“

Was ist Studenten zumutbar? Dieser Frage müssen sich derzeit viele US-Colleges stellen. Denn Studenten fordern - ähnlich wie in Onlinemedien - Warnhinweise, wenn bei Lehrveranstaltungen Themen angesprochen werden, die traumatische Erlebnisse auslösen können. Die Liste reicht von sexueller Gewalt bis Essstörungen. Und auch Literaturklassiker sind davon nicht ausgenommen.

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„Vorsicht, das Buch ‚Der große Gatsby‘ enthält Schimpfwörter, Darstellung von Gewalt und frauenfeindliche Äußerungen.“ Geht es nach einer Studentengruppe am US-College Rutgers, dann sollen Kommilitonen künftig explizit vor Büchern, die posttraumatische Stresssyndrome auslösen können, gewarnt werden. Damit steht Rutgers nicht alleine da, ähnliche Bestrebungen gibt es etwa auch an den Universitäten von Michigan und Kalifornien sowie an der George-Washington-Universität.

Von Gatsby bis Huckleberry Finn

„Der Große Gatsby“ ist dabei nicht das einzige Buch, das Studenten ohne entsprechende Warnung als kaum zumutbar empfinden. Auch Klassiker wie William Shakespeares „Der Kaufman von Venedig“ (Antisemitismus), Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“ (Suizid), „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ (Rassismus) und der Roman des nigerianischen Autors Chinua Achebe „Things Fall Apart“ (Kolonialismus, religiöse Verfolgung, Gewalt, Suizid) sollten auf Wunsch vieler Studenten mit Warnhinweisen versehen werden.

Campus der Universtiy of California in Santa Barbara

Carl Jantzen unter cc by-sa

Der idyllische Campus der Santa-Barbara-Universität

Unter den Professoren löste dieses Ansinnen eine Welle der Empörung aus. „Jede Form von Warnhinweisen widerspricht der akademischen Freiheit“, sagte Lisa Hajjar, Soziologieprofessorin an der Universität von Santa Barbara gegenüber der „New York Times“. Jeder Student könne im persönlichen Gespräch Abklärung verlangen, so Hajjar, aber „die Annahme, Studenten sollen nicht mit etwas konfrontiert werden, das für sie unbequem ist, ist absurd und sogar gefährlich“.

Schutz vor traumatisierenden Inhalten gefordert

Demgegenüber steht jedoch eine wachsende Gruppe an Studierenden, die sich - ähnlich wie im Internet mittlerweile seit Jahren üblich - mehr Aufklärung über belastende Situationen wünschen. Bailey Loverin ist eine der Befürworterinnen der Warnhinweise, seit sie in einer Vorlesung einen Film mit Vergewaltigungsszenen ansehen musste. Sie sei selbst Missbrauchsopfer und habe sich von dem Film bedroht gefühlt, erklärte Loverin. Auch bei traumatisierenden Lehrinhalten wie Krieg und Folter mache eine Warnung Sinn, so Loverin mit Hinweis auf die hohe Zahl an Kriegsveteranen an der Santa-Barbara-Universität.

„Dabei geht es nicht darum, dass jemand sich von etwas, das er nicht sehen will, abwendet“, erklärte die Studentin. „Aber diese Menschen fühlen sich persönlich bedroht. Sie sind in einem Klassenzimmer gefangen, aus dem sie nicht wegkönnen, ohne die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen.“ Doch das Bedrohungsszenario ist für jeden Studenten ein anderes und stellt Vortragende damit vor teils unlösbare Aufgaben, wie auch Raechel Tiffe, Professorin für Kommunikation am Merrimack College von Massachusetts, gegenüber dem Magazin „New Republic“ schilderte.

Tiffe nimmt die Bedenken der Studenten schon seit längerem sehr ernst und warnt üblicherweise im Vorfeld vor Inhalten mit sexueller Gewalt. Nach einem Vortrag, bei dem sie Auszüge aus der Musical-Komödie „Glee“ zeigte, die aus ihrer Sicht harmlos waren, kam ein Student zu ihr und machte sie auf eine Szene aufmerksam, in der ein Student Suizid beging. „Das war sehr lehrreich“, erzählte Tiffe. Sie sei sich nicht bewusst gewesen, wie niedrig die Schwelle bei manchen Studenten liege.

Warnung vor Blut, Insekten und Rapstars

Doch woher kommt der plötzliche Wunsch nach Warnhinweisen? Experten sehen den Ursprung im Internet. Feministische Blogs und Onlineseiten verwenden seit vielen Jahren Hinweise, um unter anderem Opfer von sexuellem Missbrauch vor einschlägigen Artikeln oder Bildern zu warnen. Mit den Jahren wurden diese Warnungen immer populärer und verbreiteten sich über die Sozialen Medien immer stärker. Mittlerweile wird vor allem und jedem gewarnt: Sex, Schwangerschaft, Drogensucht, Suizid, Homophobie, Darstellung von Menschen mit Behinderungen, Alkohol, Blut, engen Räumen, Tieren mit Flügeln und diversen Rapstars.

Das Onlinemagazin Slate kürte 2013 zum „Jahr der Warnhinweise“ - nicht ganz ohne Ironie. Immer wieder machen sich Magazine über den Wildwuchs lustig. So versah die Blogseite Jezebel (die üblicherweise keine Warnhinweise verwendet) einen Artikel über Schädlingsbekämpfung mit einer entsprechenden Warnung. Und auch auf Twitter versehen immer wieder Prominente ihre Profile mit dem Hinweis „Auf eigene Gefahr“.

Menschen suchen die „Komfortzone“

„Hier handelt es sich offen gesagt um eine Forderung von Menschen, die in ihrem Leben eine immer größere körperliche wie auch intellektuelle Komfortzone suchen“, sagte Greg Lukianoff, Präsident der Foundation for Individual Rights in Education (FIRE), die sich für freie Meinungsäußerung einsetzt. „Es wird immer schwieriger, diesen Menschen klarzumachen, dass es wirklich wichtig und von großem Wert ist, auch einmal vor den Kopf gestoßen zu werden“, so Lukianoff. „Das bedeutet aber, auch über todernste und unbequeme Themen zu sprechen.“

Die Skulptur "Sleepwalker" des Künslters Tony Matelli

Reuters/Dominick Reuter

Künstler Tony Matelli sorgte mit seiner realistischen Skulptur eines Schlafwandlers in Unterhose für Aufregung

Mann in Unterhose schockiert Studentinnen

Doch mit kontroversen Themen tut man sich auf amerikanischen Unicampussen schwer. An der Universität von Kalifornien kam es zu einem Zwischenfall, als eine Gruppe von Abtreibungsgegnern Plakate mit abgetriebenen Föten hochhielten. Eine schwangere Professorin für Genderstudien versuchte, die Plakate zu zerstören, und wurde wegen Vandalismus verhaftet. Die Professorin wollte jedoch nicht das Recht auf Selbstbestimmung der Frauen verteidigen, sondern begründete ihre Tat damit, dass die Bilder bei ihr Angst ausgelöst hätten. Über 1.000 Studenten unterzeichneten eine Petition, in der sie die Uni aufforderten, explizite Inhalte auf dem Unicampus zu verbieten.

Eine ähnliche Diskussion beschäftigte auch das Wellesley College, eine private Hochschule für Frauen in Massachusetts, wo die Statue eines Mannes in Unterhose die Gemüter erregte. Hunderte Studentinnen unterzeichneten eine Petition für die Entfernung des Kunstwerks, da es „bei einigen Studentinnen Erinnerungen an sexuelle Übergriffe auslösen kann“. Daran ändert auch die Versicherung des Künstlers nichts, dass es sich dabei um einen Schlafwandler handle.

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