„Es ist Mord“
Der Zorn gegen die Regierung von Premier Recep Tayyip Erdogan wegen des tödlichen Grubenunglücks im westtürkischen Soma hat ein Symbol bekommen: jenes des engen Erdogan-Beraters Yusuf Yerkel, der mit voller Wucht auf einen auf dem Boden liegenden Demonstranten eintritt - in Soma selbst, als Erdogan und Vertreter seiner AKP am Mittwoch dort einen ohnehin mehr als verunglückten Besuch absolvierten.
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Auf dem am Donnerstag über Soziale Medien verbreiteten Foto ist zu sehen, wie Yerkel zum Tritt ausholt, während zwei Sicherheitskräfte den Mann auf dem Boden festhalten. Türkische Medien berichteten, der Mann habe seiner Wut mit einem Tritt gegen ein Auto aus Erdogans Konvoi freien Lauf gelassen, nachdem der Premier das Unglück mit vermutlich über 400 Toten einen „Arbeitsunfall wie viele andere auch“ genannt hatte. Yerkel bestätigte gegenüber dem türkischen Dienst der BBC, dass tatsächlich er auf dem Bild zu sehen ist.
Yerkel räumt „Erklärungsbedarf“ ein
Türkischen Medienberichten zufolge sagte Yerkel, bei dem Mann habe es sich um einen militanten Linken gehandelt, der ihn und Erdogan angegriffen und beleidigt habe. Laut der englischsprachigen Ausgabe der türkischen „Hürriyet“ (Onlineausgabe) war der Mann von den Sicherheitskräften wegen des Tritts vernommen worden, als Yerkel auftauchte. Dieser kündigte gegenüber BBC Türk eine öffentliche Erklärung zu dem Vorfall an. Es gebe „Erklärungsbedarf“, räumte er ein.

APA/EPA/Depo Photos
Der Vorfall wurde von mehreren Fotografen festgehalten
Ohnehin war der Besuch Erdogans in Soma zum PR-Debakel geraten. Wie erst am Donnerstag bekanntwurde, musste sich der Premier mit seinen Mitarbeitern sogar in einem Supermarkt verbarrikadieren, um der wütenden Menge zu entgehen. Es war zu spontanen Protesten gekommen, nachdem Erdogan über ein zwar „sehr schmerzhaftes Ausmaß“ des „Arbeitsunfalls“ gesprochen, jedoch gesagt hatte, dass derlei Vorkommnisse „in der Natur der Sache“ lägen. Das örtliche AKP-Büro wurde nach Erdogans Besuch niedergebrannt, berichteten türkische Medien.
Enge AKP-Bindungen von Bergwerkseigner
Noch am Mittwochabend waren Tausende Menschen in Ankara und Istanbul gegen Erdogan auf die Straße gegangen. Die Polizei ging mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Menge vor. Am Donnerstag gingen die Proteste ebenso wie die Zusammenstöße mit der Exekutive weiter. In Izmir gingen die Einsatzkräfte gegen 20.000 Demonstranten vor. In Istanbul beteiligten sich Tausende an einer Sitzblockade. Auf Transparenten stand: „Es ist kein Unfall, es ist kein Schicksal, es ist Mord!“
Die Gewerkschaften riefen für Donnerstag zu einem Generalstreik auf und warfen der Regierung ein „Massaker“ vor, bei dem „Hunderte unserer Kollegen in Soma von Anfang an dem Tod überlassen“ worden seien. Viele Teile der früher staatlichen Industrie, darunter auch die Grube von Soma, wurden in den letzten Jahren privatisiert. Oft bekamen dabei Betreiber mit AKP-Verbindungen den Zuschlag, so auch in Soma: Der Grubeneigner soll etwa Arbeitern ihre Essensgutscheine nur nach dem Besuch von AKP-Wahlveranstaltungen ausgehändigt haben.
Hunderte Gräber ausgehoben
Nach dem Unglück am Dienstag im westtürkischen Soma lag die Zahl der bestätigten Todesopfer am Donnerstagvormittag bei 282. Für etwa 150 Kumpel, die unter Tag eingeschlossen sind, gibt es jedoch „kaum Hoffnung“, wie ein Überlebender sagte: Die Rettungsarbeiten sind wegen Erstickungsgefahr de facto eingestellt. Am Donnerstag besuchte Präsident Abdullah Gül den Ort des Unglücks. Laut Behördenangaben konnten 363 Kumpel gerettet werden, der Bergwerksbetreiber spricht jedoch weiterhin ohne Angabe von Belegen von 450. Darunter seien 80 Verletzte, die noch in Krankenhäusern behandelt würden, teilte die Soma Holding auf ihrer Website mit.

APA/AP/Emre Tazegul
Soma am Donnerstag
Nur ein Schutzraum für 6.500 Kumpel
Unterdessen wurden grauenhafte Hinweise auf den furchtbaren Todeskampf der eingeschlossenen Kumpel bekannt. Die Nachrichtenagentur Dogan (DHA) berichtete unter Berufung auf Rettungskräfte, 14 Kumpel hätten in dem einzigen Schutzraum in der Zeche Zuflucht gesucht. In dem nur fünf Quadratmeter großen Raum hätten sie sich an den Masken abgewechselt, bis der Sauerstoff aufgebraucht gewesen sei. Dann seien sie erstickt. Die Retter hätten die 14 Leichen übereinander liegend gefunden. DHA berichtete, in der Zeche habe es für 6.500 Kumpel nur diesen einen Schutzraum gegeben.
Zwei Tage nach dem Grubenunglück fanden in Soma Massenbeerdigungen statt. Mit Hilfe von Freiwilligen seien mehr als 200 Gräber ausgehoben worden, sagte ein Totengräber auf dem Friedhof des Ortes. Ein dpa-Reporter berichtete, mehrere Beerdigungen hätten am Donnerstag parallel stattgefunden. Gleichzeitig wurden mehrere Reihen neuer Gräber gegraben. Die Särge seien mit Lastwagen zum Friedhof gebracht worden.
Präsident Gül versprach Aufklärung
Der türkische Staatspräsident Abdullah Gül versprach unterdessen eine Aufklärung der Katastrophe. „Die Untersuchungen haben schon begonnen“, betonte Gül am Donnerstag nach einem Besuch an der Unglückszeche. „Sie werden mit großer Sorgfalt weitergeführt.“ Gül sprach den Angehörigen der Opfer sein Beileid aus. „Es ist ein großer Schmerz, und es ist unser aller Schmerz.“
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