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Wenn Satire nicht mehr auffallen kann

Komplimente für die Intelligenz der Wähler sehen anders aus: Werber quer durch Europa gehen offenbar davon aus, dass Inhalte Stimmen kosten, und gehen beherzt genau in die Gegenrichtung. Wie nie zuvor fallen im laufenden EU-Wahlkampf betont inhaltsfreie Sujets vom Plakat bis zum TV-Spot auf, die nicht den Hauch irgendeiner europapolitischen Aussage haben - dafür aber umso mehr Sex & Crime. Oder Unfug.

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Der Spitzenplatz dabei kommt wohl „Voteman“ zu, der immerhin vom dänischen Parlament ins Rennen geschickt wurde. Wenn der Zeichentricksuperheld nicht gerade in Orgien mit einer Handvoll Frauen verstrickt ist, reißt er Nichtwählern aller Couleurs den Kopf ab oder schlägt ihnen zumindest die Zähne ein. Bei der Produktion des Films sei real existierenden „Hipstern keine Gewalt angetan“ worden, beruhigt der Nachspann. Irgendetwas daran muss aber sogar den Dänen zu viel gewesen sein.

Eröffnete Kandidatinnen und andere Blamagen

Ob es nun die Delfine im SM-Outfit waren oder das viele Blut - das dänische Parlament zog den Spot nach wenigen Tagen wieder zurück, was freilich die Fangemeinde im Netz nicht stoppen konnte. Betont werden muss allerdings, dass rotzig-satirische Wahlaufrufe in Dänemark Tradition haben, wie schon ein Wahlaufruf für die Parlamentswahl im letzten Jahr beweist. Und abgesehen davon ist die Satire zumindest beabsichtigt - im Unterschied zu anderen Ländern.

In Italien etwa überboten einander vor allem die Kandidaten der Rechten mit sinnfreien Wahlbotschaften. Da zeigt sich Alleanza-Nazionale-Kandidat Fabrizio Bracconeri vom eigenen Diäterfolg begeistert: „Ich habe abgenommen. Jetzt liegt es an Europa.“ Seine Parteikollegin Chiara La Porta wortspielt sich unterdessen selbst ins Out und fordert, man solle La Porta (die Tür) „in Richtung Zukunft öffnen“. Man solle auf dem EU-Wahlzettel das „Z“-Zeichen von Zorro hinterlassen, wünscht sich wiederum der sozialdemokratische Kandidat Damiano Zoffoli.

Tschechinnen und Tschechen tragen Haut zu Markte

Aufseiten der Sozialdemokratie geben auch die tschechischen Parteifreunde einige Rätsel auf. In einem Wahlwerbespot geben sie ihrer Wählerschaft unter dem Titel „Sex in der Arbeit“ (mit Klischee-Büro-Blondine) folgende Kausalkette vor: „Jeder hat in der Pause auf etwas anderes Lust. Und Sex in der Arbeit ist toll. Nur schade, dass in Tschechien fast eine halbe Million Leute keine Arbeit haben. Wählt sozialdemokratisch.“

ANO, die Partei des amtierenden Finanzministers und „tschechischen Stronach“ Andrej Babis, hat zwar weniger Sex und rätselhafte Gedankensprünge zu bieten. Dafür sollen sich dort potenzielle Wähler freimachen: ANO versucht, mit einem „Melanom-Bus“ zu mobilisieren. Das Gefährt tingelt durch die tschechischen Wahlkreise und bietet kostenlose Hautkrebsuntersuchungen an. Am Dienstag war auf dem Marktplatz von Kutna Hora Station. Prognosen zufolge könnte ANO in Tschechien bei der EU-Wahl die stärkste Kraft werden.

Stringenz bei deutschen Antieuropäern

Im benachbarten Deutschland gibt es zwar Inhalte, das muss aber nicht zwingend sinnvolle Wahlwerbung ergeben: Für die antieuropäische Alternative für Deutschland (AfD) ist die EU etwa genau so demokratisch wie das „dicke koreanische Kind“. Gemeint ist Nordkoreas Diktator Kim Jong Un. Außerdem im Angebot: Frauen in Latex mit Handschellen (wahlweise in Leder mit Faustfeuerwaffen), die „Kriminalität härter angehen“; Frauen in Stringtangas, die „p(r)o Vielfalt“ werben; und noch mehr Stringtangas, die „gegen political correctness“ Stellung beziehen.

Bei den Piraten wiederum wird das Brüsseler Manneken Pis affichiert. Der Slogan „Wenn jemand zuschaut, kann ich nicht“ soll offenbar gegen die Abhörpraktiken der NSA gerichtet sein. Beim deutschen Niveau-Limbo ist allerdings zu bedenken, dass die Bundesregierung selbst die Latte ziemlich tief gelegt hat - mit einem offiziellen Wahlaufruf, der just das Klischee der gekrümmten Gurke bemüht, die inzwischen nur noch die verbohrtesten EU-Kritiker für Realität halten sollten. Der Slogan: „Wählerisch solltest du nur in deiner politischen Entscheidung sein.“

Sonneborn kann Deutschland nicht retten

Angesichts der deutschen Slogan- und Plakatlandschaft nimmt es nicht wunder, dass der Humor des Spaßprojekts „Partei“ immer wütender wird. Das Team um den früheren „Titanic“-Chefredakteur Martin Sonneborn bemüht sich immer verzweifelter darum, trotz der Konkurrenz durch die „echte Politik“ noch als Satire erkennbar zu sein, zuletzt etwa durch die exakte Kopie einer Hitler-Rede aus dem Jahr 1935 als offiziellen Wahlkampfspot. Auch das half nichts: „Die Partei“ hat dem Vernehmen nach reelle Chancen auf einen EU-Parlamentssitz.

Lukas Zimmer, ORF.at

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