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„Wir hassen Briten, besonders Gärtner“

Es ist ein sonniger Tag in Kent. Tom Hart Dyke kommt aus seinem „World Garden“ ins Haus, um ungestört mit ORF.at telefonieren zu können. Er erzählt bedächtig, ganz im Stil eines britischen Gentleman und mit jeder Menge Enthusiasmus in der Stimme von seinen Abenteuern auf Expeditionen, bei denen er neue Pflanzen entdeckt. Der Wendepunkt in seinem Leben war eine Entführung in Kolumbien.

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ORF.at: Wo kommt Ihre überbordende Begeisterung für Pflanzen her?

Tom Hart Dyke: Großmutter starb leider 2010 im Alter von 96 Jahren. Als Dreijähriger bekam ich von ihr ein Päckchen mit Karottensamen. Seit damals war es um mich geschehen. Seit damals gärtnerten wir gemeinsam hier im Garten des Schlosses von Lullingstone, wo ich lebe. Wir pflanzten Gemüse und Blumen, etwa Rosen. Das war eine große Inspirationsquelle für mich.

ORF.at: Medien vermitteln den Eindruck, britische Jugendliche seien stets sturzbesoffen. War das bei Ihnen anders?

Hart Dyke: Das Binge-Drinking-Phänomen, genau. Sogar heute - ich bin 38 Jahre alt - sagen meine Freunde noch: „Jetzt komm doch mit in den Pub!“ Und ich antworte: „Hey, ich bin noch im Garten und muss noch etwas erledigen.“ Meine Freunde finden das noch immer komisch. Aber während ich Teenager war, fanden sie es noch seltsamer, und sie wollten mich immer überreden, in Clubs und Pubs mitzukommen. Schon damals sagte ich: „Nein, ich bin im Garten, ich hab noch etwas zu tun, ich möchte noch etwas aussäen.“

ORF.at: Waren schon damals Orchideenjäger Ihre Idole?

Hart Dyke: Nicht so sehr die Orchideenjäger. Sie interessierten mich schon - aber noch mehr ganz allgemein Pflanzenjäger. Da gab es zum Beispiel George Forrest. Er ging überallhin, besonders oft etwa nach China, um nach seltenen Pflanzen zu suchen. Orchideen waren auch dabei, aber nur in geringerem Ausmaß, eher Rhododendren und ähnliche Pflanzen, die für uns alltäglich sind - aber nur deshalb, weil Leute wie er sie nach Europa gebracht haben. Er war wie meine Großmutter eine große Inspiration für mich.

Blüte einer Orchidee

ORF.at/Zita Köver

Orchidee aus der Ausstellung „Reichenbachs Orchideen“ im NHM

Er brachte Abertausende von Pflanzen nach Europa. Und vor allem war da sein Charakter: Er war sehr stur. Er hatte immer eine Wunschliste mit, was er alles suchen wollte. Und er schwor sich auf diese Liste ein, er entwickelte einen Tunnelblick, sein Vorgehen war zielgerichtet. Das hat viel mit mir und meiner Persönlichkeit zu tun: vollkommen eingenommen sein vom Pflanzenjagen, davon, eine bestimmte Pflanze zu finden, die ich gerne sehen oder sammeln würde. Diese Sturheit haben wir gemeinsam.

ORF.at: Was war Ihre erste eigene Reise, um Pflanzen zu jagen?

Hart Dyke: Im Alter von 17 bin ich mit dem Fahrrad in dreieinhalb Wochen von Großbritannien bis Portugal gefahren. Das war vollkommen verrückt, ich war so unendlich müde, der Gegenwind hat mich gequält. Trotzdem habe ich Pflanzen in den Pyrenäen gesammelt, in der Wildnis in Frankreich, im zentralen Hochland von Spanien und auch in Portugal, und ich habe botanische Gärten besucht, die auf meiner Strecke lagen. Es war wundervoll. Dieser Trip hat mich süchtig gemacht. Ich ging danach als 21-Jähriger drei Jahre lang auf Reisen, nach Zentralamerika, Südostasien und Australien.

In Südostasien war ich ein ganzes Jahr lang, ich habe jedes Land außer Vietnam besucht. Meine einjährige Australien-Reise wurde dann schon gesponsert von der Royal Horticultural Society und vom Kent Garden. Alle wichtigen Gärten in Großbritannien, auch die berühmten Gärten von Kew, haben bis heute Pflanzen meiner damaligen Tasmanien-Reise.

ORF.at: Und danach kam es zur Entführung in Kolumbien?

Hart Dyke: Kolumbien war eigentlich gar kein Teil des Plans. Es wurden fast neun Monate in Geiselhaft daraus. Dabei hat es doch nur mit einem blöden Fehler angefangen, den ein Freund und ich begangen haben. Wir hätten dorthin niemals gehen sollen wegen seltener Orchideen. Die Gegend, in die wir gereist sind, der Darien Gap, ist die einzige Unterbrechung der Panamericana-Route. Und die geht sonst durch ganz Nord- und Südamerika.

Wir wollten diese Lücke schließen und Orchideen suchen. Wir sahen auch viele Orchideen. Aber leider auch viel anderes, nachdem wir gekidnappt wurden. So ein blöder Fehler, wir hätten dort nicht hingehen sollen, wir waren gewarnt. Aber ich konnte nur an die Orchideen denken. Ich kann wirklich nur jedem raten: Bitte geht nicht in solche gefährlichen Gebiete.

Wir wissen bis heute nicht genau, wer die Leute waren, die uns entführt haben. Ich werde den Tag der Entführung niemals vergessen, den 16. März 2000. Paul und ich hatten uns gerade erst kennengelernt. Wir gingen mit zwei Guides auf eine Lichtung, die voll von Orchideen war. Ich wollte nirgendwo anders auf der Welt sein als genau dort in diesem Moment. Es war ein unglaublicher Platz. Ich suchte dort nach einer neuen Spezies von Orchideen, die ich nach meiner Großmutter benennen könnte.

Es war genau zu Mittag, als drei Burschen und drei Mädchen, kaum älter als 15 oder 16, mit Maschinengewehren auf uns zuliefen, uns auf den Boden stießen, die beiden Guides in die Büsche schleppten - wir sahen sie nie wieder. Und dann fesselten sie uns und marschierten mit uns den Weg entlang, von dem wir gekommen waren. Wir waren auf dem schönsten Platz der Welt und binnen Sekunden änderte sich alles: Wir dachten, der Tag, an dem wir sterben, wäre gekommen. Nie wieder Pflanzenjagen für Mister Tom!

ORF.at: Wie war die Beziehung zu den Kidnappern?

Hart Dyke: Manche waren recht nett. Zumindest in Maßen freundlich. Paul und ich wollten, dass sie halbwegs relaxt blieben. Wir zogen deshalb das britische Gentleman-Ding durch, sagten andauernd Bitte und Danke für das großartige Essen - die Affen und welche Tiere sie uns sonst noch vorsetzten. Wir bedankten uns sogar, ihre Gäste sein zu dürfen. Mit der Zeit machte sie das total verrückt. Sie hassten uns dafür: „Hört endlich auf, Bitte und Danke zu sagen. Wir hassen Engländer, besonders Gärtner!“

Ich brachte sie tatsächlich dazu, mit mir Orchideen zu sammeln. Und ich legte im Lager einen Garten an. Sie hassten das! Nachdem ich gekidnappt wurde, habe ich mehr Orchideen gesehen als jemals davor. Nicht, dass ich eine Reise dorthin deshalb empfehlen würde. Es war eine so abgelegene Gegend, voll von Orchideen. Das war ein großer Fehler der Kidnapper, mich dorthin zu bringen. Ich und Orchideen ... ich liebe sie. Ich habe dort im Lager im Dschungel ein Gewächshaus für Orchideen gebaut und Gärten angelegt. Sie sind mit mir auf bewaffnete Orchideenpatrouillen gegangen. Ich konnte nicht glauben, dass sie auf das eingegangen sind. Aber sie haben es tatsächlich gemacht!

Tom Hart Dyke und Paul Winder

picturedesk.com/EPA/Hugo Philpot

Tom Hart Dyke (links) und Paul Winder nach ihrer Befreiung

Bis heute glauben viele Menschen, dass ich wegen meiner Liebe zu Orchideen freigekommen bin. Die haben es nicht mehr ausgehalten. Am Ende sagten sie: „Frohe Weihnachten. Tom, bitte hör auf, über Blumen zu sprechen und über Orchideen. Wir hassen dich. Hau einfach ab! Hau ab!“

ORF.at: Und worum wäre es den Kidnappern eigentlich gegangen?

Hart Dyke: Einmal sagte einer zu uns: „Wir wollen zehn Millionen Dollar für euch beide oder wir erschießen euch.“ Das war der einzige Hinweis, den wir hatten, dass sie Geld wollten. Schließlich haben sie uns sogar Geld gegeben, damit wir gehen. Das ist kein Scherz: Sie haben uns dafür bezahlt, abzuhauen. Die haben uns nicht mehr ausgehalten. Ich scherze heute gerne darüber. Aber in Wahrheit hatten wir natürlich unglaublich Glück.

ORF.at: Und während dieser schwierigen Zeit haben Sie ihren „World Garden“ geplant?

Hart Dyke: Genau. So viele positive Sachen sind aus diesem Kidnapping entstanden. Das größte davon war der „World Garden“. Alles hat am 16. Juni 2000 begonnen. Sie sagten uns, dass wir noch fünf Stunden hätten, bevor sie uns töten. Es war schrecklich. Sie waren widerliche Menschen und plötzlich überhaupt nicht mehr freundlich. Es war dramatisch. Paul wollte sich umbringen - was ganz offensichtlich keine gute Idee war.

Ich für meinen Teil habe mir gedacht: „Das kann ich nicht tun. Es muss etwas anderes geben.“ Um Paul und mich am Leben zu erhalten, öffnete ich die Mittelseite meines Tagebuchs und fing an, den „World Garden“ zu entwerfen. Genannt habe ich ihn damals noch nicht so. Es war nur der Traumgarten, den ich zu Hause in Lullingstone anlegen wollte. So konnte ich mit der Situation umgehen. Gärtnern ist überhaupt sehr therapeutisch. Ich lenkte mich und Paul einfach von dem Gedanken ab, bald erschossen zu werden.

Am 21. Dezember war ich dann wieder zu Hause, rechtzeitig vor Weihnachten.

ORF.at: Was ist eigentlich die Faszination daran, in Weltgegenden zu reisen, in denen sich noch kaum jemals ein Mensch aufgehalten hat?

Hart Dyke: Im Oktober fliege ich nach Äthiopien. Dort gibt es noch immer Orte, die entdeckt werden wollen mit Pflanzen, die ebenfalls noch entdeckt werden können. Das fasziniert mich. Mit Google Maps und Smartphones ist die Welt ein kleiner Ort, und es ist unglaublich, dass sich immer noch Orte und Pflanzen entdecken lassen - und das 2014! Die Aufregung, die man dabei verspürt, wird nicht kleiner.

Aber ich habe schon etwas gelernt aus den Ereignissen vor 14 Jahren. Ich plane meine Reisen viel verantwortungsbewusster und bin viel vorsichtiger. Ostafrika ist ein großartiger Ort für Reisen, auch Papua-Neuguinea und Teile von Australien. Es gibt so viele Orte mit spannenden Pflanzen, für die unser Klima hier nicht ideal ist.

ORF.at: Was war der beste Ort für die Pflanzenjagd, an dem Sie jemals waren?

Hart Dyke: Schwierige Frage. Die Antwort klingt wohl ungewöhnlich: die Kanaren. Normalerweise reisen dort vor allem binge-drinking Briten hin. Es ist der Himmel auf Erden für All-inclusive-Touristen, auch viele aus Deutschland sind dort. Mich freut es, weil ich deshalb an billige Flüge komme. Nur eine halbe Stunde mit dem Mietauto entfernt von den Touristenzentren lassen sich bereits mehr Pflanzen entdecken als sonst wo auf der Welt. Die Besonderheit der Pflanzen ist auf dieser Insel aufgrund ihrer Isolation umwerfend. Für mich sind die Kanaren die botanischen Galapagos-Inseln Europas.

Blüte einer Orchidee

ORF.at/Zita Köver

Orchidee aus der Ausstellung „Reichenbachs Orchideen“ im NHM

ORF.at: Haben Sie eigentlich schon eine neue Pflanze entdeckt, die Sie nach ihrer Großmutter benennen konnten?

Hart Dyke: Ja, ich habe es geschafft, etwas zu finden. Es war keine Orchidee. Es war eine Penstemon. Und die heißt jetzt nach dem Spitznamen meiner Großmutter „Crac’s Delight“. Ich habe sie in Mexiko gefunden, an dem Tag, an dem ich Paul Winder kennengelernt habe, mit dem ich später gemeinsam entführt wurde. Als ich dann zurückkam, sagte Oma: „Okay Tom, es ist zwar keine Orchidee, aber ich lass es dir durchgehen. Du hast meinen Segen.“

ORF.at: Die viktorianischen Orchideenjäger haben Indigene ja sehr von oben herab behandelt, gelinde gesagt ...

Hart Dyke: Es war schrecklich.

ORF.at: Wie arbeiten Sie mit den Menschen an abgelegenen Orten zusammen?

Hart Dyke: Okay, wenn wir jetzt einmal von Kolumbien und dem Gekidnappt-Werden absehen. Das war etwas anderes. Die, die uns entführt haben, waren Indigene. Die kamen aus Panama und Kolumbien. Es gab welche unter ihnen, die fünf Jahre früher Führungen im Dschungel gemacht haben und die Orchideen hergezeigt haben und auch die Affen. Die waren professionelle Guides. Es war so seltsam für mich, dass die nur fünf Jahre später mit Waffen herumrennen und Menschen entführen.

Sonst ist das natürlich ganz anders. Ohne die Guides würde ich all diese Pflanzen niemals finden. Das Wissen der lokalen Bevölkerung ist so wichtig. Man kann auch alleine etwas finden, wenn man Tipps bekommt - wenn etwa die Kew Gardens zu mir sagen: „Tom, der Platz muss spitze sein, dort musst du hin.“ Aber diese Täler und Berggipfel sind in Wahrheit riesige Areale. Du findest die Pflanzen dort nicht, wenn du einfach einmal kurz hingehst und auf dein Glück vertraust. Du brauchst einen Guide. Sie verlangen nicht viel Geld, und ihr Wissen wirft einen um.

Und wenn man mit Guides herumreist, und seien es nur ein, zwei Wochen, dann entwickelt sich daraus immer eine Freundschaft.

ORF.at: Sie sammeln nur für den „World Garden“ und für die Wissenschaft - und niemals aus kommerziellen Gründen?

Hart Dyke: Ich sammle hauptsächlich für den „World Garden“. Wenn ich Förderungen habe, etwa von der Royal Horticultural Society, nehme ich denen Samen mit. Ich sammle fast ausschließlich Samen. Die Gesetze sind mittlerweile so streng. Und dafür werde ich bezahlt, manchmal bekommen sie den Samen, oder dann die daraus erwachsene Pflanze für einen botanischen Garten. Aber meistens sammle ich für mich, weil ich die Pflanzen schön finde. Wenn sie großartig ausschauen, nehme ich Samen mit und pflanze sie hier in Lullingstone und zeige sie den Menschen - Pflanzen, die sie sonst nirgendwo sehen können.

ORF.at: Susan Orlean hat in ihrem Buch „The Orchid Thief“ von den späten 90ern berichtet, dass für einzelne Orchideen von Sammlern bis zu 50.000 Dollar bezahlt werden. Gibt es das noch?

Hart Dyke: Nicht mehr so wirklich. Allerdings gibt es Gegenden in Japan, wo für einzelne Exemplare viel bezahlt wird, allerdings seltsamerweise für solche, die nicht blühen, die sehr kleine Blätter haben, Miniaturpflanzen eigentlich. Das ist dort sehr in Mode. Viel kann man dafür natürlich nicht verlangen. Es gibt schon noch immer den „Orchideen-Craze“, aber man kann damit sicher nicht mehr so viel Geld machen. Das hat sicher auch mit der massenweisen Verbreitung zu tun.

Es gibt Riesenglashäuser in Holland zum Beispiel. Das finde ich ja gar nicht schlecht. Es vermehrt die Liebe zu Orchideen. Und es macht das Schmuggeln von Pflanzen weniger lukrativ. Es ist doch vollkommen unnötig, dass Menschen Pflanzen aus der Wildnis stehlen. Ich finde das richtiggehend blöd. Man kann Orchideen schon so billig kaufen. Und das ist gut für die wilde Population von Orchideen da draußen in der Natur.

Es ist viel mehr Geld mit dem Klonen, Kreuzen und Aufziehen von Orchideen zu machen als mit der Entdeckung von einzelnen Exemplaren neuer Gattungen. Man versucht etwa eine Orchidee mit schwarzen Blütenblättern zu züchten, mit irgendeinem Tupfen drauf. Oder eine besonders schöne Farbe zu bekommen. Dafür verwendet man Pflanzen, die selbst schon Hybride sind. Die Niederländer sind besonders gut darin. Dort ist Geld zu holen - allerdings nur in den ersten drei, vier Jahren nach dem ersten Auftauchen eines Exemplars auf dem Markt. Dann beginnen die Preise ordentlich zu sinken.

Auch bei den Orchideenmessen, Shows und Wettbewerben sind meistens die neuesten, spektakulärsten Orchideen die Stars - viel eher als neue Spezies. Es gibt schon neue, aber die sind nicht so ornamental. Die Blumen sind einfach nicht so groß wie früher. Die großen wurden ja schon entdeckt - die waren ja leichter zu finden. Außerdem kann es sehr schwer sein, sie wachsen zu lassen. Man sieht sie deshalb selten bei Orchideenshows hierzulande.

Das Gespräch führte Simon Hadler, ORF.at

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