Von Wahlrecht bis „Dolchstoß“-Legende
Der Erste Weltkrieg war der erste „Volkskrieg“, der die Grenzen zwischen Front und Heimat verschwimmen ließ. Doch fast ausschließlich Männer gingen als Befehlshaber, Soldaten, Kriegsgefangene oder Friedensverhandler in die Geschichtsbücher ein. Die Rolle der Frauen wird erst langsam aufgearbeitet - und so mancher Mythos wird dabei enttarnt.
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In einem so männlich konnotierten Feld wie der Militär- und Kriegsgeschichte nach Frauen und weiblichen Einflüssen zu suchen erachteten Historiker lange Zeit als wenig lohnend. Erst in den vergangenen Jahren wurde der Frauen- und Geschlechtergeschichte im Rahmen der Weltkriegsforschung mehr Raum gegeben, was dazu führte, dass 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit zahlreichen Mythen und Legenden aufgeräumt werden kann.
Mythos: Weltkrieg ist die Wiege der Emanzipation
Eindeutig ins Reich der Mythen verweisen die beiden Historikerinnen Christa Hämmerle und Birgitta Bader-Zaar die landläufige Annahme, der Erste Weltkrieg sei der Beginn der Frauenemanzipation gewesen. Auch wenn sich in der Geschichtswissenschaft hier schon viel getan habe, halte sich diese Meinung noch immer hartnäckig, kritisiert Bader-Zaar im Gespräch mit ORF.at. In den eben erschienen Bänden „Heimat/Front“ und „Gender and the First World War“ wird die Frauen- und Geschlechtergeschichte im Ersten Weltkrieg sowohl aus internationaler Perspektive als auch für Österreich-Ungarn dargestellt, dabei zeigt sich unter anderem die Emanzipationsbewegung in einem neuen Licht.

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Eine Straßenbahnfahrerin in Schottland während des Ersten Weltkriegs
So waren arbeitende Frauen kein Phänomen der Kriegsjahre, vielmehr erfolgte ihr Einstieg in die Berufswelt schon viel früher. „Der Prozess wurde durch den Krieg nur verstärkt“, erklärt Hämmerle. Tatsächlich sank mit Kriegsausbruch der Anteil arbeitender Frauen zunächst, da viele Stellen im häuslichen Dienst oder in der Textil- und Konsumgüterbranche wegfielen. In der Folge kam es zwar in den kriegswichtigen Industrien zu einem enormen Anstieg an beschäftigten Frauen, doch ihre Arbeit beschränkte sich zumeist auf schlecht bezahlte Hilfstätigkeiten, die Arbeitszeiten waren lang und die Schutzmaßnahmen mangelhaft.
Mit Fortschreiten des Krieges wurden Frauen zwar immer häufiger in typischen Männerberufen als Briefträgerinnen, Straßenbahnfahrerinnen oder Rauchfangkehrerinnen eingesetzt oder sie bedienten in den Fabriken und in der Landwirtschaft schwere Maschinen. In einigen Fällen, in denen Ehemänner, Söhne oder Väter eingezogen wurden, übernahmen Frauen auch Organisationsaufgaben. Doch insgesamt nahm die Zahl der Frauen, die einer bezahlten Arbeit nachgingen, während des Krieges weniger stark zu als gemeinhin angenommen, wie eine Auswertung der Sozialversicherungsdaten in Deutschland gezeigt hat.
Mythos: Wahlrecht wurde im Ersten Weltkrieg erkämpft
Zu Kriegsbeginn waren die meisten Frauenverbände bereit, ihre internationalen Tätigkeiten vorübergehend einzustellen und sich ganz in den Dienste des Staates zu stellen. Durch eine besonders patriotische Gesinnung und ihre Tätigkeiten in der Kriegsfürsorge hofften die Frauen in allen Kriegsnationen, ihre Position in der Gesellschaft zu stärken und durch ihre loyale Haltung auch als gleichberechtigte Bürgerinnen wahrgenommen zu werden, erklärt Bader-Zaar.
Und tatsächlich wurde in vielen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg das Frauenwahlrecht eingeführt. „Sieht man sich die politische Situation aber genauer an, erkennt man, dass das mit spezifischen politischen Konstellation zu tun hat“, so die Historikerin. So musste sich die britische Frauenbewegung, deren militanter Flügel (Suffragetten) im Großbritannien der Vorkriegszeit besonders vehement für politische Rechte aufgetreten war, 1918 zunächst mit einem eingeschränkten Wahlrecht begnügen, und auch ihr politischer Einfluss war deutlich geringer als erhofft.
In Österreich kam den Frauen der revolutionäre Umbruch zugute. Mit der Gründung der Ersten Republik 1918 kamen die Sozialdemoraten an die Macht, und diese setzten das schon lange geforderte und in ihrem Parteiprogramm verankerte Frauenwahlrecht durch. Andere Punkte, für die Frauen kämpften, wie gleicher Lohn für gleiche Arbeit und Reformen im Familienrecht wurden jedoch nicht realisiert. Von einer Emanzipation kann also nicht gesprochen werden, betonen Bader-Zaar und Hämmerle.
Mythos: Tapfere Männer, liebende Frauen
Als sich im heißen Sommer 1914 im Kaiserreich Österreich-Ungarn abzeichnete, dass ein Krieg unvermeidlich ist, wurden Männer wie Frauen von einer regelrechten Euphorie gepackt. Der Krieg würde schon nach wenigen Wochen vorbei sein, hieß es allerorts, und besonders das Bild des Soldaten wurde heroisiert und verklärt. Ein starkes Symbol für die Mobilmachung der Heimatfront wurden die „Liebesgaben“. Frauen und Schulkinder füllten Millionen Pakete mit Lebensmitteln, Tabak oder selbst gestrickten Socken und schickten diese mit einem aufmunternden Gruß an die „tapferen Soldaten“ an der Front. Diese antworteten mit kurzen patriotischen Gedichten oder Feldpostkarten, in denen sie ihren Dank ausdrückten.

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Frauen überreichen deutschen Soldaten Blumen auf dem Weg zur Front
In der Darstellung der Kriegspropaganda symbolisierten die Pakete das Band zwischen Heimat und Front, in zahlreichen Artikeln und Bildern wurde ihr Einfluss auf die Moral der Soldaten stark überzeichnet. Doch obwohl Soldaten an der Front und in Lazaretten in den ersten Monaten mit „Liebesgaben“ regelrecht überhäuft wurden, fanden diese in ihren privaten Briefen oder späteren Kriegserinnerungen kaum Erwähnung.
Und auch nicht alle Frauen waren über die ihnen zugewiesene grenzenlose Fürsorge erfreut. So sahen Frauen der Unterschicht, die ihre Arbeit in den Textilfabriken nach Kriegsbeginn verloren hatten und nun in den Strick- und Nähstuben der Frauenkriegshilfe schlecht bezahlte Beschäftigung fanden, in den von bürgerlichen Frauen massenhaft als „Liebesgaben“ hergestellten Socken und Hauben eine existenzielle Konkurrenz.
Mythos: Front beschützte die Heimat
Einer der größten Mythen des „totalen Krieges“ war die Darstellung, dass Front und Heimat getrennte Sphären seien und die Männer in den Schützengräben die Frauen im Hinterland beschützten. Durch moderne Kriegstechnik und die Art der Kriegsführung lösten sich die Grenzen aber immer stärker auf. Hunger, Not, Kälte und Krankheiten bis hin zum Seuchentod taten ihr Übriges, wie in der Einführung im Buch „Heimat/Front“ betont wird. Zudem sorgten die Kampfhandlungen vor allem im östlichen Frontverlauf für enorme Flüchtlingsströme. Rund 300.000 galizische Juden fanden in Wien Zuflucht, wo sie den Druck auf die hungernde Bevölkerung erhöhten.

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Frauen vor durch Luftangriffe völlig zerstörten Häusern
Mythos: Keine Frauen im Militärdienst
Frauen im Kriegsdienst waren lange tabu, dabei gibt es Belege dafür, dass Frauen als Soldatinnen in polnischen und ukrainischen Einheiten kämpften. Zudem meldeten sich in Österreich-Ungarn zwischen 30.000 und 50.000 Frauen als „weibliche Hilfskräfte für die Armee im Felde“. Sie übernahmen Aufgaben, damit wehrfähige Männer für den Einsatz an der Feuerlinie frei wurden. Das trug ihnen keinen guten Ruf ein, da solche Frauen oft eines unmoralischen Lebenswandels bezichtigt wurden. Dem Militär waren sie als Köchinnen, Wäscherinnen, Wärterinnen oder Telefonistinnen dennoch unverzichtbar. In den Gebirgsregionen Italiens sorgten auch „Portatrici“ (Trägerinnen) für die Versorgung der Truppen. Dafür schleppten sie bis zu 30 Kilogramm schwere Rucksäcke in die Höhenstellungen hinauf und hinunter.
Mythos: Die wertgeschätzten Krankenschwestern
Noch weit größer war die Zahl der Frauen, die als Krankenschwestern und Pflegerinnen unmittelbar an der Front tätig waren. Ihre Leistungen wurden in der Nachkriegszeit jedoch vergessen. „Mir ist in Österreich bis 1935 keine einzige Lebenserzählung einer Krankenschwester bekannt, die über einen Verlag veröffentlicht wurde“, weist Hämmerle auf die dürftige Quellenlage hin. Erst über die Erschließung von Briefen und Memoiren werden die Erfahrungen, die diese Frauen bei ihrem Einsatz an der Front machten, langsam sichtbar.

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Krankenschwestern müssen sich bei der Versorgung von Patienten mit Gasmasken schützen
Anders als für die Entente-Mächte, wo die Geschichte der Krankenschwestern sehr gut erforscht wurde und es einige auch zu einem gewissen Heldenstatus gebracht haben, fehlen zu Österreich-Ungarn nicht nur exakte Zahlen, wie viele Krankenschwestern überhaupt im Einsatz waren, es gibt auch kein einziges Denkmal, welches die außergewöhnlichen Leistungen dieser Frauen würdigt. Wie groß die gesellschaftliche Missachtung ihrer Leistungen nach 1918 war, zeigen die unveröffentlichten Erinnerungen von Marianne Janka, die fast den gesamten Krieg über für das Rote Kreuz im Einsatz war und danach völlig verarmte. „Die Kriegsauszeichnung gab ich der Milchfrau für einen Liter; sie gab sie ihren Buben zum Spielen.“
Mythos: Heimat fiel Soldaten in den Rücken
Mit Kriegsende war der Zustand des Heeres katastrophal. Allein Österreich-Ungarn verlor rund 1,4 Mio. Soldaten, circa 2,7 Mio. gerieten in Kriegsgefangenschaft, und um die 100.000 Männer kehrten als Invalide nach Hause zurück. Vom Bild des stolzen Soldaten war nichts mehr übrig geblieben. Zu Hause erwarteten die Kriegsheimkehrer wirtschaftliche und soziale Probleme und Frauen, die immer stärker an der Geschlechterordnung rüttelten. In dieser Situation wuchs die Enttäuschung über den „Undank der Heimat“, die in den Zwischenkriegsjahren durch entsprechende Erinnerungsbücher noch verstärkt wurde.

ORF.at/Carina Kainz
Buchhinweise
- Christa Hämmerle: Heimat/Front. Böhlau Verlag, 279 Seiten, 29,90 Euro.
- Christa Hämmerle, Oswald Überegger und Birgitta Bader-Zaar (Hrsg.): Gender and the First World War. Palgrave Macmillan, 280 Seiten.
Das gipfelte in der „Dolchstoß“-Legende, in der der Heimat vorgeworfen wurde, durch ihre schwache Moral den „im Felde unbesiegten“ Truppen in den Rücken gefallen zu sein. Als Beleg wurden auch die sogenannten „Jammerbriefe“ herangezogen, die bei toten Soldaten und Gefangenen gefunden worden waren. Darin beklagten sich Frauen über die wachsende Not an der Heimatfront. Für die feindlichen Truppen waren diese Briefe natürlich ein willkommenes Propagandamittel.
Mythos: Krieg ging wegen „Jammerbriefen“ verloren
Um ihre Ausbreitung einzudämmen, ließ etwa das Deutsche Reich eigene Informationsbroschüren anfertigen, in denen die „Jammerbriefe“ als einer „echt deutschen Frau“ unwürdig bezeichnet wurden. Die österreichische Zensur ging verstärkt dazu über, weibliche „Klagebriefe“, versehen mit einer entsprechenden Belehrung, zu retournieren. Adolf Hitler griff in seiner Hetzschrift „Mein Kampf“ diese „Jammerbriefe“ wieder auf und nannte sie als Beispiel für die Unterminierung der Kampfmoral der Truppen.
Dass es ab 1917 auch unter den Soldaten immer wieder zu Protesten und Meutereien kam, fand sich in der Kriegsaufarbeitung lange Zeit kaum. „Sie blendete zum Beispiel aus, dass an der Westfront ab dem Sommer 1918 rund eine halbe Million Soldaten einfach gesagt haben, ‚uns reichts‘“, sagt Hämmerle. „De facto war es aber ein Ineinandergreifen sehr vieler Auflösungserscheinungen, sowohl in der Heimat wie auch bei den Soldaten.“
Gabi Greiner, ORF.at
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