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Kampf ums Überleben

Der Kampf der Ukrainer für politischen Wandel hat, ganz abseits von Ideologien, wirtschaftliche und soziale Gründe. Das Durchschnittsgehalt liegt bei rund 200 Euro, die Lebenshaltungskosten sind hingegen mit jenen in westlichen Ländern vergleichbar. Für die Ukrainer heißt das bittere Armut, ein Alltag im Kampf gegen den Hunger und ständiges Improvisieren in allen Lebensbereichen.

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Bei dieser Improvisation hilft die Caritas in der Ukraine mit zahlreichen Projekten. Ein Beispiel dafür ist das Ehepaar M. mit fünf Kindern, zwei davon sind behindert. Der Vater hat einen Job in der Metallbranche, die Mutter ist Hausbesorgerin. Die zwei Gehälter für Vollzeitarbeit reichen für eine Wohnung, die aus einem kleinen Kabinett und einer Küche besteht. In dem Kabinett stehen zwei Stockbetten für die Kinder. Das fünfte Kind, der älteste Sohn, hat Nachtarbeit angenommen. So kann er tagsüber in einem der Betten schlafen und in der Nacht haben seine vier Geschwister einen Schlafplatz.

Die Mutter schläft auf einer Matratze quer unter dem Küchentisch, der Vater im vollgeräumten Vorzimmer vor der Wohnungstüre. Vor kurzem hat er um eine Erhöhung der Sozialhilfe angesucht, die 20 Euro mehr im Monat wurden ihm jedoch verwehrt. Vera Koschil versucht ihm zu helfen: Sie leitet in enger Zusammenarbeit mit der Caritas und der Wiener Pfarre Aspern ein Mutter-Kind-Zentrum sowie ein Kinderzentrum in Kiew. Zwei der Kinder der Familie werden dort untertags betreut.

Betten mit Kindern

Caritas/Rainer Riedler

Schlafende Kinder in einem Heim in Kiew

Wer gesund ist, hat Glück

Im Gespräch mit ORF.at erzählt Koschil, dass sie oft auf die simple Frage, wie es einem gehe, mit dramatischer Geste die Antwort bekommt: „Gott sei Dank sind alle gesund.“ Das ist in der Ukraine keineswegs selbstverständlich. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer liegt bei 63 Jahren, die der Frauen bei 74. Es gibt keinerlei staatliche Krankenversicherung - nicht einmal dem schönen Schein halber. Medikamente sind teuer. Wird jemand ernsthaft krank, bringt das eine Familie rasch an den Rand des Ruins.

Solidarisch werden Medikamente getauscht mit Verwandten und Nachbarn. Eine Spitalsreform, die in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends in Angriff genommen worden war, ist längst wieder eingeschlafen. Ärzte aus dem öffentlichen Spitalswesen ziehen scharenweise in den viel teureren privaten Bereich ab. Gerade für Pensionisten wird medizinische Versorgung unleistbar - bei einer durchschnittlichen Pension von 90 Euro pro Monat.

Obdachlose und Hunde

AP/Sergei Grits

Streunende Hunde auf einem Markt

100.000 Kinder ohne Eltern

Jedes Jahr im Winter erfrieren Dutzende Menschen in ihren Wohnungen, weil sie die Rechnungen für Strom und Gas nicht bezahlen können. Drogensucht und Alkoholismus stehen an der Tagesordnung - die Zahlen sind seit der schweren Wirtschaftskrise des Landes in den 90er Jahren geradezu explodiert. All diese Probleme betreffen laut Koschil nicht nur eine Handvoll sozial Ausgegrenzter, sondern den Großteil der Bevölkerung. Besonders die Kinder bekämen die Krise zu spüren.

Die UNICEF schätzt die Zahl jener Minderjährigen, die nicht bei ihren Eltern leben, weil diese im westlichen Ausland oder in Russland arbeiten oder sich aufgrund von Alkoholismus oder anderer Probleme nicht kümmern, auf rund 100.000 - und jedes Jahr werden es 20.000 mehr. Sie leben bei Nachbarn, den Großeltern, alleine auf der Straße und ein kleiner Teil von ihnen wird von Einrichtungen versorgt wie jene, die Koschil für die Caritas verwaltet.

Frau mit Kind

Caritas/Rainer Riedler

Rund 100.000 Kinder in der Ukraine leben nicht bei ihren Eltern

Vater und Mutter betrunken und auf Drogen

Als ein Beispiel von vielen nennt Koschil das Mädchen Mascha. Sie wurde von der Polizei aus der Wohnung ihrer Eltern geholt. Diese hatten zu dem Zeitpunkt Geburtstag gefeiert und waren - wie so oft - völlig betrunken und auf Drogen herumgelegen. Um das Mädchen kümmerte sich niemand. Sie kam schließlich ins Heim zu Koschil. Dort stellte sich heraus, dass Mascha noch nie mit Spielzeug gespielt hatte. Niemals hatte sich jemand kindgerecht mit ihr beschäftigt.

Auch in eine Schule ist Mascha nicht gegangen, obwohl sie bereits im entsprechenden Alter war. Nicht einmal als das Mädchen bereits im Heim lebte, wollte sie ein Schuldirektor aufnehmen - mit der Begründung, dass sie das Kind von Drogensüchtigen sei. Im Heim musste Mascha zusehen, wie die jüngeren Neuzugänge von Familien adoptiert wurden. Sie war offenbar zu alt und fragte immer wieder nach, warum niemand sie nehmen wolle. Erst nach jahrelangen Anstrengungen - Mascha wurde sogar im Fernsehen vorgestellt - fand sich eine Familie.

Kinder basteln

Caritas

In einem Tageszentrum werden Kinder betreut, die tagsüber alleine sind

Suppe und Kartoffeln

Eine Familie, das bedeutet in der Ukraine, von wenigen Profiteuren der Krise abgesehen, im besten Fall menschliche Wärme und einen Platz zum Überleben. Viel mehr sei es nicht, sagt Koschil. Sehr oft stehe nur Suppe auf dem Tisch: „Weil in die kann man so viel - oder eben so wenig - hineintun, wie man will. Oft ist das nur heißes Wasser mit etwas Gemüse.“ Als nahrhaftere Variante gibt es Suppe mit Getreide. Oft steht die Nationalspeise Wareniki auf dem Tisch: Knödel, die mit Kartoffeln gefüllt sind.

Viele wollen mehr für ihre Familien oder sie ertragen die Situation schlicht nicht und gehen deshalb ins westliche Europa, um zu arbeiten. Manche landen dabei in Österreich, als Erntehelfer etwa oder als Reinigungskraft. Die zerrissenen Familien, sagt Koschil, seien eines der Hauptprobleme in der Ukraine. Der soziale Zusammenhalt funktioniere nicht mehr.

Die Flucht ins Ausland

Helga Tippel ist in der Pfarre Wien Aspern seit den 90er Jahren in Sachen Ukraine-Hilfe engagiert. Jahrelang organisierte sie Ferienaufenthalte für Kinder in Österreich. Heute sammelt die 75-Jährige in ihrer Pfarre mit ungeheurem Einsatz und zahlreichen aufwendigen Projekten Geld für die Betreuungseinrichtungen der Caritas in der Ukraine.

Tippel kennt beispielsweise eine Putzfrau, die es nach Österreich verschlagen hat: In der Ukraine ist die Juristin als Gerichtshelferin angestellt, bekommt dort ihr ohnehin geringes Gehalt aber so unregelmäßig - um nicht zu sagen selten - ausbezahlt, dass sie immer wieder nach Wien kommt, um sich so als Reinigungskraft über Wasser halten zu können.

Blick nach Europa

Die, die in der Ukraine bleiben, sind auf Hilfe von außen angewiesen - und auf gegenseitige Solidarität, auf selbst gezogenes Gemüse, auf Vieh, das irgendjemand in der Verwandtschaft oder Bekanntschaft schlachtet. Aber selbst das ist oft schwer zu bekommen, weil Futter und Saatgut so teuer geworden sind. Gleichzeitig profitieren Großgrundbesitzer und internationale Handelsriesen vom Status der Ukraine als Agrarexportland.

So sei das eben in ihrer Heimat, sagt Koschil. Einige wenige sind reich, wirklich reich, und 90 Prozent der Menschen leben in Armut. Korruption sorgte bisher dafür, dass sich an dieser Verteilung nichts ändert. Wenn die benachteiligten 90 Prozent die Situation ihrer Nachbarn vergleichen - die der EU auf der einen und Russlands auf der anderen Seite -, dann würden sich die meisten lieber an Europa orientieren, das eher mit sozialer Stabilität verbunden wird. So seien schließlich die Proteste auf dem „Euro-Maidan“ zu verstehen, sagt Koschil. Mit Ideologie habe das nur wenig zu tun.

Simon Hadler, ORF.at

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