Ein 158 Jahre alter Schatten
Der im Zuge des Machtumbruchs in der Ukraine aufgebrochene Krim-Konflikt zwischen Kiew und Moskau spitzt sich seit Tagen in rasantem Tempo zu. Im Westen warnen immer mehr politische Entscheidungsträger vor einer neuen Spaltung des Kontinents - genau 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Doch die Krim ist aufgrund ihrer besonderen geopolitischen Lage schon viel länger ein politischer und militärischer „Hotspot“.
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Die unmittelbaren Hintergründe für den Konflikt: eine mehrheitlich prorussische Bevölkerung, viele haben eine russische oder die Doppelstaatsbürgerschaft, Standort des einzigen russischen Marinestützpunkts (Sewastopol) am Schwarzen Meer und damit der russische Zugang zum Mittelmeer.
Mit Ausnahme der Ukraine, Georgiens und natürlich des russischen Küstenabschnitts ist die Schwarzmeerküste NATO-Gebiet (Türkei, Bulgarien und Rumänien). Georgien strebt die NATO-Mitgliedschaft an. Erst Anfang Februar hatte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen dem Land Fortschritte bei der Annäherung an das transatlantische Militärbündnis bescheinigt, das seit 2008 mit Russland - in einem durchaus mit den Ereignissen auf der Krim vergleichbaren Fall - um die Region Abchasien streitet. Und zumindest die derzeitige proeuropäische Führung in Kiew will, erst recht nach dem nunmehrigen russischen Vorgehen, nicht nur in die EU, sondern auch in die NATO.
Deja vu zum Kalten Krieg
Beobachter sprechen bereits von einer Neuauflage des Kalten Kriegs: Dieser war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nie völlig überwunden worden, wie die immer wieder antagonistischen Positionen in regionalen Konflikten - derzeit vor allem im syrischen Bürgerkrieg - zeigen. Doch der Konflikt direkt an der russischen Grenze in einem 46-Millionen-Einwohner-Land, das aus Moskauer Sicht ein Puffer zu den westlichen Bündnissen, insbesondere der NATO bleiben muss, weist so manche Parallele zu einem der blutigsten Konflikte vor dem beiden Weltkriegen auf - dem Krim-Krieg von 1853 bis 1856.
Der Krieg war der erste moderne Stellungskrieg - die Belagerung von der Stadt Sewastopol, deren Fall schließlich die endgültige russische Niederlage einläutete, war bereits ein blutiger Vorgeschmack auf die Grabenkämpfe des Ersten Weltkriegs. Es war ein Ost-West-Konflikt in ebenso umfassendem Ausmaß wie der Kalte Krieg. Das Beunruhigende: Nicht nur konkrete Machtinteressen, sondern eine Mischung aus Fehleinschätzungen, Missverständnissen und diplomatischem Ungeschick führte dazu, dass der Krieg zu einem der opferreichsten modernen Konflikte vor 1914 wurde - wobei die meisten nicht im Kampf starben, sondern an schlechter Versorgung, Hunger, Kälte und Krankheiten.
„Kranker Mann am Bosporus“
Der Konflikt startete als Streit zwischen dem Osmanischen und dem Russischen Reich. Der äußere Anlass war ein Streit über die heiligen Stätten in Jerusalem, das osmanisch war. Doch ging es im Hintergrund um konkrete geopolitische und wirtschaftliche Interessen. Das Britische Empire und Frankreich wollten verhindern, dass Russland im Nahen Osten und in Südosteuropa zur Hegemonialmacht aufsteigt. Für London hätte das zudem die Landverbindung nach Indien gekappt. Das Osmanische Reich galt bereits als „Kranker Mann am Bosporus“, und Zar Nikolaus I. sah die Chance, seine Macht in Europa auszubauen und einen ungehinderten Zugang zum Mittelmeer zu bekommen.
Dieser Vorstoß wurde aber von französischen und britischen Truppen, die zu Hilfe eilten, verhindert. Diese griffen Sewastopol auf der Krim an, obwohl sich auf dem Originalschauplatz im heutigen Rumänien die Truppen des Zaren im Frühsommer 1854 bereits auf dem Rückzug befanden, als die britischen und französischen Truppen dort einlangten.
Ähnliche Interessenlage
Eine kriegerische Auseinandersetzung wie in den 1850er Jahren scheint derzeit trotz aller Zuspitzung noch unwahrscheinlich - als zu groß werden die Risiken von Beobachtern für alle Seiten eingeschätzt. Doch bei der Interessenlage gibt es durchaus Ähnlichkeiten: Der Westen und Russland kämpfen um die Einflusssphäre in Osteuropa. Aus militärischer Sicht ist die Krim - wie damals - als Marinestützpunkt für Russland von vitaler Bedeutung, da dieser den Zugang zum Mittelmeer sichert.
Seit Monaten etwa wird laut westlichen Angaben das syrische Regime von Sewastopol aus mit Militärmaterial beliefert. So wie in den 1850er Jahren will der Westen den russischen Einfluss im Nahen Osten begrenzen (und umgekehrt), aktuell vor allem im syrischen Bürgerkrieg.
„Offener Wettstreit“
Dmitri Trenin vom US-Thinktank Carnegie Moscow Centre, warnte am Wochenende in einem Kommentar für den britischen „Observer“, dass eine militärische Konfrontation zwischen russischen und ukrainischen Kräften nicht nur ein paar Tage dauern würde - wie der Konflikt 2008 mit Georgien. In diesem Fall würde die Auseinandersetzung „länger und blutiger, und dies wäre die größte Gefahr für Europas Sicherheit in einem Vierteljahrhundert“.
Doch auch wenn es zu keinen Kampfhandlungen komme, werden sich laut Trenin die Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen „fundamental“ ändern und die globalen Machtverhältnisse verändern. Russland habe sich jetzt in einen „offenen Wettstreit“ um das neue Osteuropa mit den USA und der EU begeben. Das könnte eine zweite Runde des Kalten Kriegs auslösen, warnt Trenin, der von Russland, aber auch von anderen, einen hohen Preis fordern würde.
Guido Tiefenthaler, ORF.at
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