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Timoschenko-Vertrauter nominiert

Der frühere Parlamentschef Arseni Jazenjuk - eine Symbolfigur der Protestbewegung - soll die Übergangsregierung in der Ukraine führen. Das schlug der Rat der Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) in Kiew am Mittwochabend vor. Dem Vorschlag muss das Parlament am Donnerstag noch zustimmen.

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Dem Interimskabinett soll auch der mutmaßlich gefolterte Regierungsgegner Dmitri Bulatow als Sportminister angehören. Der Kommandant des Protestlagers auf dem Maidan, Andrej Parubij, soll Chef des Sicherheitsrates werden, und die Journalistin Tetjana Schornowil soll ein neues Antikorruptionskomitee leiten. Die prominenten Oppositionspolitiker Julia Timoschenko und Witali Klitschko standen hingegen nicht auf der Liste, die den Zehntausenden auf dem Maidan vorgestellt wurde.

Reuters/Konstantin Chernichkin
Designierter Premier Arseni Jazenjuk

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Jazenjuk soll die Führung der krisengeschüttelten Ukraine übernehmen

Die Kandidatur wurde von den Zehntausenden Aktivisten aber auch mit zahlreichen Pfiffen aufgenommen, weil der 39-Jährige nicht für einen echten Neuanfang stehe. Übergangspräsident Alexander Turtschinow sagte, die neue Regierung stehe vor unpopulären Maßnahmen. Es gelte, die Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden, das Vertrauen der Gläubiger und Investoren wiederzugewinnen und das Leben für die Bürger zu normalisieren.

„Ungeheuerliche Herausforderung“

Jezenjuk hatte noch vor kurzem jede Beteiligung an der ukrainischen Übergangsregierung als „politischen Selbstmord“ bezeichnet, nun scheint er seine Meinung geändert zu haben. „Diese Regierung steht vor einer ungeheuerlichen Herausforderung: Sie soll nichts Geringeres als das Land retten“, sagt Jazenjuk. Im blutigen Machtkampf hatte er mit mitreißenden Reden sein Image als blasser Technokrat abgeschüttelt.

Der Professorensohn stammt aus Tscherniwzi (Tschernowitz) in der Bukowina, etwa 500 Kilometer südwestlich von Kiew. Einst galt er als politischer Ziehsohn des damaligen Präsidenten Viktor Juschtschenko. Als Außenminister vertrat der perfekt Englisch sprechende Vater von zwei Töchtern die Ex-Sowjetrepublik bereits international. Bei der Präsidentenwahl 2010 landete er mit knapp sieben Prozent der Stimmen jedoch abgeschlagen auf dem vierten Platz.

Galt lange Zeit als Timoschenkos „Platzhalter“

Seit Dezember 2012 führt Jazenjuk Timoschenkos Vaterlandspartei als Fraktionsvorsitzender im Parlament. Bis zu Timoschenkos Haftentlassung galt er aber nur als „Platzhalter“ der charismatischen Politikerin. Nach der Rückkehr der 53-Jährigen gilt Jazenjuks Nominierung als Präsidentschaftskandidat als unwahrscheinlich. Die Kandidatur als Ministerpräsident gibt ihm nach Ansicht von Experten die Möglichkeit, aus Timoschenkos Schatten zu treten.

Janukowitsch-Gegner beim Singen der Nationalhymne

AP/Emilio Morenatti

Viele Ukrainer setzen ihre Hoffnungen in den neuen Premier

Für die Rettung der angeschlagenen Ex-Sowjetrepublik bringt er Erfahrung mit: Jazenjuk ist Doktor der Wirtschaftswissenschaften sowie Ex-Zentralbankpräsident und ehemaliger Wirtschaftsminister.

Finanzbedarf als Fass ohne Boden

Angesichts der prekären Finanzlage der Ukraine gilt der Posten der Regierungschefs als das schwierigste Amt. Das Land befindet sich in der schwersten Krise seit Jahrzehnten und braucht zudem wohl weit mehr Geld als gedacht. Die von Übergangspräsident Turtschinow genannten 35 Mrd. Dollar (rund 25,5 Mrd. Euro) reichten kaum bis Jahresende, sagte Jazenjuk.

Am Abend nach der Bekanntgabe der Nominierungen für die neue Regierung trudelten bereits erste dringend benötigte Hilfszusagen ein. Die USA sagten der Ukraine eine Kreditbürgschaft von einer Milliarde US-Dollar (727 Mio. Euro) zu. „Wir schnüren erst einmal eine Garantie von einer Milliarde Dollar, zusammen mit einigen weiteren Elementen“, sagte US-Außenminister John Kerry am Mittwoch vor Reportern in Washington.

Notkredite aus Russland auf Eis gelegt

Die EU bereitet nach seinen Worten Kreditbürgschaften in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar für die frühere Sowjetrepublik vor. Kerry formulierte das erste konkrete Hilfsangebot, seit dem Umsturz. Russland hatte Kiew zwar Notkredite von 15 Milliarden Dollar (knapp elf Mrd. Euro) zugesagt. Doch nach einer ersten Auszahlung legte Moskau die weiteren Tranchen angesichts der dramatischen Entwicklungen auf Eis.

Die Ratingagentur Standard & Poor’s hatte am Freitag vorausgesagt, das Land werde in die Pleite stürzen, sollte Russland seine Hilfe stoppen. Kiew muss in diesem Jahr noch 13 Milliarden Dollar an seine Gläubiger zurückzahlen. Neben den USA und der EU ist auch der Internationale Währungsfonds (IWF) zu finanzieller Unterstützung bereit. Für ein Programm des IWF müsste in Kiew aber zunächst eine dauerhafte Regierung im Amt sein, um die Anforderungen des Fonds erfüllen zu können. Neuwahlen in der Ukraine sind für den 25. Mai angesetzt.

Zusammenstöße auf der Halbinsel Krim

Eine weitere Herausforderung für die neue Regierung wird es sein, einen Zerfall des Landes zu verhindern. Auf der südukrainischen Halbinsel Krim kam es am Mittwoch zu Auseinandersetzungen zwischen prorussischen Demonstranten und Krim-Tataren, die eine Annäherung an Moskau strikt ablehnen. Der Chef des Regionalparlaments, Wolodimir Konstantinow, wies Forderungen, über eine Abspaltung der Halbinsel von der Ukraine zu beraten, als „Provokation“ zurück.

Mehrere Demonstranten wurden bei den Auseinandersetzungen leicht verletzt. In der Nähe des Parlaments wurde die Leiche eines Mannes gefunden. Nach Angaben der Behörden erlag er offenbar einem Herzinfarkt. Die Krim ist stark russisch geprägt. Bis zum Jahr 1954 gehörte die Halbinsel im Schwarzen Meer offiziell zu Russland, dann wurde sie der ukrainischen Sowjetrepublik übertragen.

Janukowitsch soll noch in der Ukraine sein

Wo sich der abgesetzte Präsident Janukowitsch aufhält, ist nach wie vor unklar, mittlerweile gibt es aber Hinweise darauf, dass er sich noch in der Ukraine aufhalte. Das gab die stellvertretende Generalstaatsanwältin Mykola Golomcha am Mittwochnachmittag bekannt. „Wir verfügen über Informationen, nach denen Janukowitsch noch immer in der Ukraine ist“, so Golomcha bei einer Pressekonferenz in Kiew.

Designierter Premier Arseni Jazenjuk

Reuters/David Mdzinarishvili

Täglich legen Hunderte Menschen Blumen auf dem Maidan nieder, zum Gedenken an die getöteten Demonstranten

Das Gerücht, dass sich Janukowitsch in Russland aufhalte, wurde mittlerweile von mehreren Seiten dementiert. Der russische TV-Kanal RBK hatte berichtet, dass Janukowitsch sich in einem Moskauer Luxushotel mit dem Namen „Ukraine“ aufgehalten haben, bevor er sich in ein Erholungszentrum im Umland der russischen Hauptstadt begeben habe. Quelle für die Information soll ein „russischer Geschäftsmann“ sein, der sie wiederum von einem „ranghohen Beamten“ haben will.

„Russland hätte ihm kein Asyl gewährt“

Der Generaldirektor des „Ukraine“ dementierte die Information laut Interfax. Auch der russische Parlamentarier Michail Margelow wies Spekulationen einer Flucht des ukrainischen Ex-Präsidenten nach Moskau zurück: „Ich weiß genau, dass Janukowitsch nicht in Russland ist“, sagte der Vorsitzende des Ausschusses für internationale Angelegenheiten im Föderationsrat dem Sender Russia Today. „Russland hätte ihm kein Asyl gewährt.“

Vorsorglich will die Ukraine Janukowitsch international zur Fahndung ausschreiben lassen. Das Land habe beantragt, Janukowitsch wegen „Massentötungen“ per internationalen Haftbefehl zu suchen, sagte Generalstaatsanwalt Oleg Machnizki vor Journalisten. Am Dienstag forderte das Parlament in Kiew zudem den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH/ICC) in Den Haag auf, gegen Janukowitsch wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu ermitteln.

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