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Ein Soziales Netzwerk voller Fremder

„Dafür gibt es eine App“: Mittlerweile gibt es kaum einen Lebensbereich, auf den sich dieser Satz nicht anwenden lässt. Auch die Partnersuche, die in den letzten Jahren durch ein nicht enden wollendes Angebot an Onlineplattformen erleichtert werden sollte, hat den Weg aufs Handydisplay gefunden. Derzeit die größten Userzuwächse hat die Dating-App Tinder, die unkomplizierte, schnelle Flirts am laufenden Band verspricht.

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Vorweg: Es gibt wohl keine oberflächlichere Art, soziale Kontakte auszuwählen. Ob man mit jemandem (via eingebautes Chat-Tool) kommunizieren möchte, entscheidet man auf Tinder ausschließlich anhand eines Fotos, des Vornamens und des Alters. Wen man fesch findet, markiert man wahlweise mit einem Herz oder stuft ihn mittels Wischbewegung nach rechts als interessant ein. Wer optisch nicht überzeugen kann, bekommt ein X oder einen Wischer nach links und verschwindet damit aus den Vorschlägen - für immer, wie es in den Antworten auf die Frequently Asked Questions an Tinder heißt - „you only swipe once“.

„Warum sagst du nicht einfach Hallo?“

Weil Tinder aber eine Dating-App und kein Partnersupermarkt ist, reicht es nicht, jemanden fesch zu finden, um mit ihm verbunden zu werden. Erst wenn sich beide positiv bewerten, wird eine Möglichkeit, in Kontakt zu treten, hergestellt. „Chatte mit deiner Verbindung“ schlägt Tinder dann vor - und für Schüchterne oder Uninspirierte liefert die App gleich noch einen potenziellen Gesprächsauftakt mit: „Warum sagst du nicht einfach Hallo?“ Zugegeben, das ist kein besonders origineller Gesprächseinstieg, aber es genügt, um den Anbandelball zum virtuellen Gegenüber zu spielen. Ob und wie viele Daten das sich gegenseitig attraktiv findende Paar dann austauscht, bleibt ihm selbst überlassen.

Screenshots von Tinder

Screenshot Tinder; ORF.at; Fotolia/Kzenon/Rido

Mit X oder Herz legt man fest, wer eine Chance bekommen soll - wird man von einem Auserwählten zurückgeherzt, stellt die App eine Verbindung her

Tinder übernimmt Daten von Facebook

Unabhängig davon, ob das neu gematchte Paar glücklich bis ans Lebensende zusammenlebt, sich zu einem One-Night-Stand trifft oder sich schon nach wenigen gewechselten Worten im Chat total unsympathisch ist: Wer auf jeden Fall viele Daten abbekommt, sind die App-Betreiber. Denn um auf Tinder aktiv werden zu können, benötigt man zwingend einen Facebook-Account und muss die Zustimmung geben, dass die Anwendung auch einen Großteil der dort preisgegebenen Details erhält. Das sei nötig, erklärt Justin Mateen, Mitgründer von Tinder, damit die vorgeschlagenen Kontakte möglichst gut abgeglichen und zueinander passend vorgeschlagen werden könnten.

Die Idee, Menschen anhand eines Fotos zu bewerten, und zwei Teilnehmer, die sich gegenseitig gut finden, zu verbinden, ist dabei aber gar nicht so neu. Schon 2000 gründeten James Hong und Jim Young, zwei Silicon-Valley-Programmierer, die Plattform Hot or Not, die anfänglich ausschließlich dazu diente, Fotos von sich hochzuladen und sich das Urteil der Community abzuholen. Mit dem Erfolg von Tinder ist in den letzten Monaten auch Hot or Not zurückgekehrt: Als App und Facebook-Anwendung ähnelt sie Tinder bis ins kleinste Detail.

Netzwerk, „das Menschen einander vorstellt“

„Wir hatten bei der Entwicklung nie eine Dating-Plattform im Sinn“, erläuterte Mateen gegenüber der britischen Zeitung „The Guardian“. „Es ist ein Soziales Netzwerk, das Menschen einander vorstellt.“ Damit kontert Mateen auch der immer wieder aufflammenden Kritik, dass Tinder nichts anderes als eine Aufreiß-App sei, die Teilnehmer allesamt auf One-Night-Stands aus seien, und die Plattform ohnehin bald von Prostituierten zur Geschäftsanbahnung erobert werde.

Tatsächlich sind es aber eher Unternehmen, die sich Fake-Profile zulegen, um so kostenlos auf Tinder zu werben. Entsprechend der App-Richtlinien würden solche Einträge jedoch gelöscht, erklärte Marteen gegenüber dem „Guardian“.

Ein weit größeres Problem stellen Sicherheitslücken in der Programmierung der App dar. Ende letzten Jahres wurde etwa bekannt, dass Hacker über mehrere Monate hinweg die exakten Standortdaten der Tinder-User auslesen konnten. Ein weiteres Problem sei es, so Kritiker, dass auch ein Facebook-Profil nichts über die wahre Identität eines Menschen aussagt - und die fesche 18-jährige Studentin in Wahrheit auch ein alter Mann sein könnte.

Tindereien aus dem Olympischen Dorf

Vor eineinhalb Jahren gestartet, hat Tinder, vor allem in den USA, Großbritannien und Skandinavien in den letzten Monaten einen regelrechten Siegeszug hingelegt. Mindestens 20.000 Downloads verzeichnet die App, die für Android und iOS verfügbar ist, mittlerweile täglich.

Für eine schlagartige Vergrößerung des Bekanntheitsgrades sorgte Anfang Februar die neuseeländische Snowboarderin Rebecca Torr. Sie schrieb über den Kurznachrichtendienst Twitter augenzwinkernd vor Beginn der Olympischen Spiele in Sotschi, dass sie es kaum erwarten könne, im Olympischen Dorf zu tindern. Medien weltweit berichteten über die offenherzige Athletin und ihre später folgenden (erfolgreichen) Versuche, das jamaikanische Bobteam kennenzulernen.

Solche Berichte freuen natürlich auch die App-Betreiber, die hoffen, irgendwann mit Tinder Geld zu verdienen. Wie, darüber hält man sich noch bedeckt. Möglich wären etwa In-App-Verkäufe, aber auch zwischengeschaltete Werbung.

Hoffen auf dauerhaften Erfolg

Ob die Tinder-Erfinder ein erfolgreiches Geschäftsmodell finden oder ob sie irgendwann genügend User haben, um - ähnlich wie Whatsapp - für eine Übernahme durch einen der großen Player interessant zu sein, wird sich zeigen. Noch loben zahlreiche Medien den „hohen Suchtfaktor“ und die unkomplizierte Möglichkeit, mit fremden Menschen ins Gespräch (wahlweise auch: ins Bett) zu kommen. Liken und geliket werden, das ist das Bedürfnis der Nutzer, das schon Facebook-Gründer Mark Zuckerberg ganz richtig erkannt hat.

Im Grunde geht es einem wesentlichen Teil der Nutzer aber um den Zeitvertreib. Während man auf den Bus wartet, lassen sich gut die Bilder der vorgeschlagenen Kandidaten durchwischen - mindestens genauso gut, wie man im Spiel „Angry Birds“ Vögel durch die Gegend schießen kann. Das könnte auch die Schwachstelle der App sein. Weil einen etwa Facebook mit bereits bestehenden Freunden verbindet, ist die Bindung an das Netzwerk viel gefestigter. In Tinder geknüpfte Kontakte werden schnell entweder ins richtige Leben (bzw. andere Netzwerke) überführt oder abgebrochen. Die Trennung von Tinder dürfte damit, wenn die große Sucht vorbei ist, keine große Schwierigkeit darstellen.

Sophia Felbermair, ORF.at

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