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Neue Runde im Tauziehen EU - Russland

Der ukrainische Parlamentspräsident Alexander Turtschinow ist am Sonntag zum Übergangspräsidenten des Landes gewählt worden. Der Vertraute der freigekommenen Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko war erst am Samstag an die Spitze des Parlaments gewählt worden. Die Rada in Kiew hatte am selben Tag Präsident Viktor Janukowitsch abgesetzt.

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Das Parlament enthob am Sonntag außerdem Außenminister Leonid Koschara des Amtes, einen engen Vertrauten des abgesetzten Präsidenten Janukowitsch. Ein Nachfolger wurde zunächst nicht gewählt. Nach dem Umbruch in der Ukraine hat das Parlament nun bis Dienstag Zeit zur Bildung einer neuen Regierung. „Ich rufe die Abgeordneten auf, sofort den Prozess zur Bildung einer neuen Parlamentsmehrheit und der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit zu beginnen“, sagte Turtschinow. Die neue Regierung müsse bis Dienstag stehen.

Parlamentspräsident Alexander Turtschinow

APA/EPA/Yury Maximov

Turtschinow ist - zumindest vorübergehend - der neue mächtige Mann der Ukraine

Als Termin für die Wahl eines neuen Präsidenten war am Samstag der 25. Mai festgelegt worden. Timoschenko hatte unmittelbar nach ihrer Freilassung angekündigt, dabei anzutreten. Experten wiesen allerdings bereits am Samstag darauf hin, dass der Staatschef trotz des Parlamentsbeschlusses formal weiter im Amt sei. Ein juristisch korrektes Amtsenthebungsverfahren müsse mehrere Hürden überwinden.

EU mahnt zum Dialog

Am Tag nach dem überraschend schnell vollzogenen Machtwechsel in der Ukraine, werden unterdessen bereits erste mahnende Stimmen laut, die angesichts des weiter ungelösten innerukrainischen Konflikts vor einer Spaltung des Landes in einen proeuropäischen Westen und einen prorussischen Osten warnen.

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton rief die Konfliktparteien zum „konstruktiven Dialog“ auf. Die „Einheit, die Souveränität, die Unabhängigkeit und die territoriale Integrität des Landes“ müssten verteidigt werden, fuhr Ashton fort. Sie reist am Montag zu politischen Gesprächen nach Kiew um über eine mögliche Unterstützung der EU für eine Lösung der Krise zu sprechen.

Ähnlich hatte sich zuvor bereits Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) geäußert. Steinmeier - er hatte zuvor noch ein Abkommen zwischen Janukowitsch und der Opposition vermittelt, das aber am Samstag von den Ereignissen überholt wurde - erklärte, „Richtschnur aller politischen Entscheidungen“ müsse der „Erhalt der territorialen Integrität und der nationalen Einheit der Ukraine“ sein.

Warten auf Reaktion Putins

Unklar ist noch, wie Moskau mit der neuen Situation umgehen wird. Die versprochenen Geldzahlungen wurden eingefroren - doch die weiterreichenden diplomatischen und geopolitischen Folgen sind noch unabsehbar. Der russische Präsident Wladimir Putin äußerte sich noch nicht zu den neuesten Entwicklungen. Der einflussreiche russische Abgeordnete Leonid Sluzki betonte, Moskau wolle weiter mit Kiew zusammenarbeiten. Dem Westen werde es aber nicht gelingen, die „Brudervölker zu entzweien“.

Oppositionsführerin Timoschenko

AP/Darko Bandic

Timoschenko weiß die Menge mit ihrer emotionalen Ansprache zu begeistern

„Kämpft bis zum Ende“

Samstagabend hatte sich Timoschenko mit einer hochemotionalen Rede in Kiew nur wenige Stunden nach ihrer Entlassung aus einer mehr als zweieinhalbjährigen Haft in der Freiheit zurückgemeldet. Vor mehr als 100.000 Menschen rief die Ex-Regierungschefin auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) zum weiteren Kampf gegen Präsident Janukowitsch auf. „Kämpft bis zum Ende“, so Timoschenko. „Wir müssen Janukowitsch und den Abschaum um ihn herum auf den Maidan bringen“, forderte sie mit sich überschlagender Stimme. Die gewaltige Menge im Zentrum der Hauptstadt empfing die 53-Jährige mit riesigem Beifall.

Erste Wahlrede für Präsidentenamt

„Ihr müsst bleiben bis zum Ende, bis Politiker gewählt sind, die das Vertrauen verdienen. Wir müssen es vollenden. Ihr habt ein neues Land verdient. Erlaubt ihnen nicht, ein Land aufzubauen, das ihr nicht wollt“, sagte Timoschenko. Die in Haft an einem Rückenleiden erkrankte Politikerin saß auf der Bühne in einem Rollstuhl. „Ehre den Helden“, waren ihre ersten bewegten Worte. Die emotionale Rede rührte viele Menschen auf dem Platz zu Tränen. Auch Timoschenko selbst rang mit der Fassung.

Wie in einer Wahlrede warb Timoschenko um Vertrauen. „Ich werde die Garantin dafür sein, dass euch niemand verrät und niemand Hinterzimmerabsprachen trifft“, sagte sie. Zuvor hatte sie bereits angekündigt, bei der nächsten Präsidentenwahl antreten zu wollen. Die Rede wurde live im Fernsehen übertragen.

Zuhörer von Oppositionsführerin Timoschenko

AP/Darko Bandic

Gebannt lauschen Anwesende auf dem Maidan der Rede Timoschenkos

Auch Skepsis gegenüber Timoschenko

Laut „Kyiv Post“ waren viele Menschen von der Rede berührt, es habe jedoch auch kritische Stimmen gegeben. Viele Menschen würden sich daran erinnern, dass Timoschenko ihr Vermögen so wie andere während der „gesetzlosen 1990er Jahre“ angehäuft habe und dass ihre Regierungszeit „alles andere als vorbildlich“ gewesen sei. Laut „Kyiv Post“ halten einige Kritiker Timoschenko für ebenso korrupt wie Janukowitsch, gegen den sie die Präsidentschaftswahl 2010 verlor. „Was sie sagte, war gut, aber wir werden sehen, ob sie ihre Versprechen auch hält“, zitierte die „Kyiv Post“ einen 33-jährigen Oppositionsanhänger.

Die Politikerin würdigte in ihrer Rede die mindestens 82 Toten der vergangenen Tage: „Wir haben es nicht auf friedliche Weise erreicht, aber diese Jungen haben das Ende der Diktatur erreicht“, sagte sie. Die Täter müssten bestraft werden. „Die Helden sterben nie“, rief Timoschenko, und die Menge antwortete in Sprechchören. Immer wieder warnte sie davor, den Maidan jetzt zu räumen. „Wenn irgendjemand euch sagt, ihr sollt nach Hause gehen, traut ihm nicht, geht bis zum letzten Schritt“, sagte die Politikerin.

Lenin-Sturz im Westen

In den vergangenen Tagen wurden im proeuropäischen Westen rund 40 Lenin-Statuen vom Sockel gestürzt oder beschädigt. Im Osten hatten Amtsträger dagegen die Absetzung Janukowitschs infrage gestellt.

Timoschenko will die Ukraine in die EU bringen

Zuvor hatte Timoschenko bereits einen direkten Kurs auf die EU gefordert. „Ich bin überzeugt, dass die Ukraine in nächster Zeit Mitglied der Europäischen Union sein und das alles ändern wird“, sagte sie. Janukowitsch hatte auf Druck Russlands eine EU-Annäherung auf Eis gelegt. Nach ihrer Entlassung war die Politikerin in einem Privatjet aus ihrem Haftort Charkiw nach Kiew geflogen. Zuletzt war Timoschenko mehr als eineinhalb Jahre wegen eines schweren Rückenleidens in einer Klinik behandelt worden. Sie war im Oktober 2011 wegen Amtsmissbrauchs in einem international kritisierten Prozess zu sieben Jahren Haft verurteilt worden.

Anti-Terror-Einheiten in Kiew

Reuters/Yannis Behrakis

Die Chefs der Sicherheitsdienste, darunter auch die Bereitschaftspolizei Berkut, sicherten zu, nicht gegen die Bevölkerung vorzugehen

Janukowitsch wollte offenbar fliehen

Am Samstag hatten sich die Ereignisse in der Ukraine überschlagen. Das Parlament riss die Kontrolle an sich. Janukowitsch wurde für abgesetzt erklärt. Das Abgeordnetenhaus in Kiew kündigte am Samstag für den 25. Mai die Wahl eines neuen Staatschefs an. Janukowitsch erklärte die Beschlüsse für „gesetzwidrig“. Er werde nicht zurücktreten und auch nicht das Land verlassen, sagte er im TV.

Der ukrainische Grenzschutz stoppte nach eigenen Angaben ein Flugzeug mit Janukowitsch kurz vor dem Abflug. Janukowitsch habe - begleitet von bewaffneten Sicherheitsleuten - ohne die übliche Grenzabfertigung von der Stadt Donezk aus fortfliegen wollen. Mehrere Kabinettsmitglieder sollen bereits ins Ausland geflohen sein, darunter der vom Parlament abgesetzte Innenminister Witali Sachartschenko.

Timoschenko-Vertraute in Schlüsselpositionen

Neben dem Parlamentspräsidenten und Übergangsstaatschef Turtschinow ist auch der vom Parlament zum Innenminister bestellte Arsen Awakow ein Timoschenko-Vertrauter. In Kiew kontrolliert die Opposition alle wichtigen Objekte. Oppositionelle „Selbstverteidigungskräfte“ mit Schutzhelmen und erbeuteten Polizeischilden schützen in Kiew etwa Parlament, den Regierungssitz und die Präsidialkanzlei vor Übergriffen. Die ukrainischen Sicherheitskräfte inklusive der Armee hatten zuvor Janukowitsch die Gefolgschaft gekündigt. Die Armee gelobte, nicht einzugreifen.

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