Verdacht reicht zurück bis 2005
Es war eine schillernde Politkarriere, die der deutsche SPD-Politiker Sebastian Edathy über die letzten Jahre hingelegt hat. So profilierte er sich als Chef des NSU-U-Ausschusses, im Herbst 2013 fuhr er bei der Bundestagswahl in seinem Wahlkreis einen großen Erfolg ein. Dem respektierten Innenpolitiker schienen in Berlin alle Türen offen zu stehen - doch mit einem Schlag änderte sich alles.
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Überraschend legte er im Februar 2014 sein Mandat im Bundestag nieder und war nur Tage später der Mittelpunkt einer Regierungsaffäre, die einen Minister das Amt kostete. Eine Chronologie:
21. Oktober 2005 bis 18. Juni 2010: Laut Staatsanwaltschaft Hannover steht Edathy im Verdacht, in diesem Zeitraum neun Bestellungen für 31 Video- und Fotosets mit Bildern nackter Buben im geschätzten Alter zwischen neun und 14 Jahren getätigt zu haben. Die ersten sieben Bestellungen kommen postalisch, die restlichen sind Downloads aus dem Internet.
Oktober 2011: Die kanadische Polizei informiert das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) über 800 deutsche Kunden eines kanadischen Onlineshops, der auch Kinderpornografie vertreibt. Davon hätten 500 Kunden klar kinderpornografisches Material geordert und weitere 300 nicht strafbares Material.
Oktober 2012: Das BKA gibt die Daten zentral zur Auswertung an die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt.
15. Oktober 2013: BKA-Chef Jörg Ziercke erfährt, dass der Name des Abgeordneten Edathy auf der Kundenliste zu finden ist. Der Hinweis kommt von der Polizei in Edathys Heimatort Nienburg-Schaumburg, die Informationen aus Kanada ausgewertet hat.
16. Oktober: Einen Tag später informiert BKA-Chef Ziercke den damaligen Innenstaatssekretär Klaus-Dieter Fritsche (CSU), der wiederum Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) über die internationalen Ermittlungen in Kenntnis setzt. Kurz darauf informiert Friedrich SPD-Chef Sigmar Gabriel, dass im Rahmen von Ermittlungen im Ausland der Name Edathy aufgetaucht sei. Gabriel erzählt dem damaligen SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier (nun Außenminister) davon, auch der damalige parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann (inzwischen Fraktionschef), wird eingeweiht.
17. Oktober: Oppermann ruft Ziercke an, um sich die Vorwürfe gegen Edathy bestätigen zu lassen. Ziercke schweigt laut eigenen Angaben dazu. Eine Aktennotiz von dem Gespräch wird nicht angefertigt.
5. November: Der Leiter der Staatsanwaltschaft Hannover, Jörg Fröhlich, erfährt in einem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft Celle erstmals von dem Verdacht.
13. November: Die kanadischen Behörden informieren auf einer Pressekonferenz über ihre internationalen Ermittlungen.
28. November: Der Rechtsanwalt Edathys bittet die Staatsanwaltschaft in Hannover nach deren Angaben zunächst vergeblich um ein vertrauliches Gespräch.
Ende November: Der innenpolitische SPD-Fraktionssprecher Michael Hartmann informiert Oppermann darüber, dass Edathy gesundheitliche Probleme habe.
2. Dezember: Edathys Anwalt fragt beim niedersächsischen Landeskriminalamt nach Ermittlungen gegen seinen Mandanten. Er bezieht sich auf Gerüchte, die Edathy gehört habe.
Dezember: Oppermann informiert seine Nachfolgerin Christine Lambrecht über den Verdacht gegen Edathy.
Anfang Jänner 2014: Edathy meldet seiner Fraktion seine Krankschreibung.
22. Jänner: Laut Staatsanwaltschaft Hannover sagt Edathys Anwalt bei einem Gespräch, sein Mandant habe gerüchteweise gehört, dass gegen ihn ermittelt werde. Zugleich versichert der Anwalt demnach, die fraglichen Filme seien nicht pornografisch gewesen.
28. Jänner: Die Staatsanwaltschaft entscheidet, Ermittlungen gegen Edathy einzuleiten, die zunächst verdeckt laufen.
31. Jänner: Nach Edathys Angaben verschwindet sein Dienst-Laptop auf einer Zugsfahrt nach Amsterdam. Gestohlen meldet er ihn allerdings erst rund zwei Wochen später.
6. Februar: Fröhlich informiert den Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) per Brief über die eingeleiteten Schritte. Der Brief liegt allerdings erst am 12. Februar im Büro Lammerts vor.
7. Februar: Edathy legt nach 15 Jahren sein Bundestagsmandat nieder und nennt dafür gesundheitliche Gründe.
10. Februar: Die Staatsanwaltschaft Hannover lässt Edathys Wohnungen im niedersächsischen Rehburg und Berlin sowie Büros durchsuchen und stellt Material sicher.
11. Februar: Edathy weist in einer Erklärung den Verdacht auf Besitz von Kinderpornografie zurück.
12. Februar: Edathy erhebt Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft: Die Razzien in seinen Wohnungen und Büros seien unverhältnismäßig und widersprächen rechtsstaatlichen Grundsätzen. Gabriel spricht Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf den Fall Edathy an. Er berichtet von Presseanfragen zum Kenntnisstand der SPD-Spitze. Die beiden kommen überein, dass solche Anfragen wahrheitsgemäß beantwortet werden müssen.
13. Februar: Die SPD-Spitze räumt in einer Mitteilung ein, seit Oktober vom Verdacht gegen Edathy gewusst zu haben. Die Weitergabe von Informationen aus dem Innenministerium stößt bei den Ermittlern auf heftige Kritik. Die Staatsanwaltschaften in Berlin und Hannover prüfen die Einleitung förmlicher Ermittlungen gegen Friedrich wegen Geheimnisverrats.
14. Februar: Friedrich erklärt, er wolle im Amt bleiben, bis über ein Ermittlungsverfahren entschieden ist. Nur wenige Stunden später tritt er als Agrarminister zurück und begründet diesen Schritt mit wachsendem Druck, aber auch mit schwindendem politischen Rückhalt.
Zuvor äußerte sich die Staatsanwaltschaft erstmals zu den Vorwürfen gegen Edathy. Es gehe um einen Grenzbereich zur Kinderpornografie. Leiter Fröhlich zeigt sich „fassungslos“ darüber, dass die SPD-Spitze schon seit Oktober Bescheid wusste. Gabriel versichert, weder er noch Steinmeier oder Oppermann hätten Informationen über Ermittlungen gegen Edathy an diesen weitergegeben.
15. Februar: Edathy bestreitet in einem Zeitungsinterview, von Tippgebern einen Hinweis auf die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen ihn bekommen zu haben. Er habe lediglich auf deutsche Presseberichte vom November über „eine Firma in Kanada“ reagiert, die von den dortigen Behörden der Verbreitung von Kinderpornografie bezichtigt worden sei, sagte Edathy dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“.
16. Februar: Der deutsche „Stern“ berichtet, dass Edathy wenige Tage zuvor seinen Laptop als gestohlen gemeldet habe. Die Staatsanwaltschaft weiß davon nichts.
17. Februar: Die SPD stellt Edathys Parteimitgliedschaft ruhend. Am Abend desselben Tages kann die Staatsanwaltschaft erst bestätigen, dass man von der Diebstahlsmeldung von Edathys Laptop in Kenntnis gesetzt worden sei.
18. Februar: Merkel, Gabriel und Seehofer versuchen bei einem Treffen im Kanzleramt die Wogen zu glätten.
19. Februar: Der Bundestagsinnenausschuss befragt Ziercke, Oppermann, Fritsche, Lambrecht, Gabriel und Steinmeier. Die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss wird immer lauter.
21. Februar: Eine weitere Sondersitzung im Innenausschuss findet statt. Ziercke und Fritsche werden erneut befragt. Für Aufregung sorgen die Absagen von Fröhlich und der niedersächsischen Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz (Grüne), vor dem Ausschuss zu erscheinen.
23. Februar: Edathy kündigt via Facebook eine Pressemitteilung für den nächsten Tag an. „Es werden seit Wochen Regeln von Recht und Anstand massiv verletzt“, so Edathy. Er soll wegen Morddrohungen im Ausland untergetaucht sein.
24. Februar: Edathy wirft den Behörden in Niedersachsen schwerwiegenden Geheimnisverrat vor und stellte eine weitere Anzeige gegen die Staatsanwaltschaft Hannover. Sein Anwalt nennt das Verfahren unfair und fordert, die Staatsanwaltschaft Hannover davon zu entbinden. Die SPD-Spitze leitete ein Parteiordnungsverfahren gegen den 44-Jährigen ein.