Proteste eskalieren
In Bosnien-Herzegowina sind am Freitag die Sozialproteste eskaliert. In der nordbosnischen Stadt Tuzla stürmten zahlreiche Demonstranten das Gebäude der Regionalregierung und setzten es Medienberichten zufolge in Brand. In der Hauptstadt Sarajevo setzte die Polizei Plastikgeschoße und Blendgranaten gegen die Demonstranten ein, berichtete ein Reporter der Nachrichtenagentur Reuters.
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In Tuzla hatten sich gegen 13.00 Uhr über 6.000 Menschen vor dem Gebäude der Kantonalregierung gedrängt, darunter auch Kriegsveteranen. Kurz danach drangen sie in das Gebäude vor. Die Polizei leistete keinen Widerstand mehr. Schon am Vortag wollten die Demonstranten das Gebäude stürmen.
Auch in Sarajevo wurde ein Regierungsgebäude gestürmt. Medien berichteten von Dutzenden Verletzten. In der Stadt Zenica wurde ebenfalls ein Regierungsgebäude gestürmt. Zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam es auch in der Stadt Bihac. In Brcko nahmen die Demonstranten Bürgermeister Ante Domic, der die Situation zu beruhigen versuchte, gefangen.
10.000 Jobs weg
Anlass für die Proteste in Tuzla waren die Konkursverfahren von fünf ortsansässigen Firmen, wodurch etwa 10.000 Personen ihren Job verlieren dürften. Schon in den vergangenen Jahren war Tuzla besonders schwer von Fabrikschließungen betroffen.
Ein Treffen mit dem Chef der Regionalregierung, Sead Causevic, hatten die Demonstranten am Freitag abgelehnt. Dieser wollte sich mit Belegschaftsvertretern in zu schließenden Betrieben treffen. Die Demonstranten beharren jedoch darauf, dass Causevic seinen Posten räumt. Einem Bericht der Tageszeitung „Dnevni avaz“ zufolge wurde er auch vom Regierungschef der Bosniakisch-Kroatischen Föderation, Nermin Niksic, zur Demission aufgefordert. Causevic habe das bei einem Treffen am Donnerstagabend jedoch abgelehnt.
130 Verletzte am Donnerstag
Schon am Donnerstag waren bei schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei in Tuzla mehr als 130 Menschen verletzt worden. 30 Demonstranten und 104 Polizisten seien im Laufe des Tages in die Notaufnahme gebracht worden, sagte ein Sprecher des Krankenhauses.

APA/AP/Amel Emric
Am Donnerstag konnte die Polizei den Sturm auf das Gebäude noch verhindern
Die Polizei setzte Tränengas ein. Einige Demonstranten warfen Steine. Laut Polizei nahmen an dem Protest etwa 2.000 Menschen teil, in Medienberichten war von 7.000 Teilnehmern die Rede. Die Demonstrationen dauern seit Mittwoch an und haben sich mittlerweile auf mehrere andere Städte ausgeweitet.
Proteste in 20 Städten
Bis Freitag hat sich der Ruf „Diebe, Diebe“ schon auf 20 Städte in der bosniakisch-kroatischen Föderation ausgeweitet, darunter Bihac, Mostar, Zenica und Sarajevo. „Nehmt die Aasgeier fest“, riefen Demonstranten in der bosnischen Hauptstadt. Am Freitag kam es erstmals auch zu einem Protest in Banja Luka, der Hauptstadt der Serbischen Republik. „Es lohnt sich nicht zu schweigen, es wird nur noch schlimmer werden“, war dort auf Transparenten zu lesen. „Hast du vielleicht Geld?“ stand auf einem großen Spruchband, das am Freitag in der Früh an einer Brücke von Visoko auftauchte.
Arbeitslosigkeit und politische Lähmung
Die Proteste werfen ein Schlaglicht auf die prekäre soziale Situation in dem Balkan-Land, das zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Bürgerkriegs immer noch unter internationaler Kuratel steht. Offiziellen Angaben zufolge liegt die Arbeitslosigkeit bei 45 Prozent, ein Fünftel der 3,8 Millionen Bosnier lebt in Armut. Ein durchschnittlicher Monatslohn liegt bei 420 Euro.
Eine Besserung ist nicht in Sicht, da die wirtschaftliche Erholung des Landes durch den andauernden Streit zwischen den Volksgruppen behindert wird. Die Politik wird weiterhin von nationalistischen Politikern dominiert, die sich uneins über die Zukunft Bosnien-Herzegowinas sind. Während die Serben nach Unabhängigkeit streben, wollen die Bosniaken als größte und verstreut über das ganze Land lebende Volksgruppe einen Zentralstaat. Die Kroaten, die immer wieder mit dem Anschluss an ihr „Mutterland“ liebäugeln, wünschen sich indes eine Aufwertung ihres Status.
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