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Kein Leck, sondern „natürliches Radon“

Im britischen Nuklearkomplex von Sellafield ist ungewöhnlich hohe Radioaktivität gemessen worden. Eines der Messgeräte im Norden der weitläufigen Anlage habe ein „hohes Niveau der Radioaktivität“ registriert, teilte die Betreiberfirma Sellafield Ltd am Freitag mit. Die erhöhte Radioaktivität steht laut Betreiber nicht mit einem technischen Defekt in Zusammenhang.

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Das Messgerät, das angeschlagen habe, sei „sehr empfindlich und registriere jede Auffälligkeit“. Nach Stunden der weitestgehenden Ratlosigkeit beim Betreiber könne man bestätigen, dass die ermittelten Werte „natürlichen“ Ursprungs seien, teilte Sellafield Ltd mit. Schuld sei radioaktives Radon, das fast überall in der Umwelt vorkommt. Wie hoch die Werte genau waren, die in Sellafield gemessen wurden, sagte der Betreiber nicht. Der Sensor sei aber nicht defekt, hieß es.

Personal aufgerufen, zu Hause zu bleiben

Vorsichtshalber sei das Personal auf der Atomanlage im Nordwesten Englands bereits am Vormittag reduziert worden - viele Mitarbeiter, die für den Betriebserhalt der Anlage „nicht unbedingt erforderlich“ waren, wurden vom Betreiber dazu aufgerufen, zu Hause zu bleiben. Hingegen müssten die „unbedingt erforderlichen“ Experten an Ort und Stelle sein. Die Radioaktivitätswerte seien über den natürlich auftretenden Werten, doch „deutlich unterhalb“ der Werte, die ein Einschreiten inner- oder außerhalb der Anlage notwendig machen würde, erklärte das Unternehmen.

Landkarte zeigt den Standort des Atomkraftwerks Sellafield in England

APA/ORF.at

Maßnahmen „konservativ und vorsichtig“

Die erhöhten Radioaktivitätswerte stellen laut Sellafield Ltd. keine „Gefahr für die Öffentlichkeit und für die Mitarbeiter“ dar. Tests hätten bereits im Vorfeld der neuen Erkenntnisse gezeigt, dass alle Anlagen korrekt und „normal“ liefen, hieß es seitens des Betreibers weiter. Über den Kurznachrichtendienst Twitter hatte der Betreiber zudem mitgeteilt, dass es „keinen Hinweis auf einen nuklearen Störfall“ gebe. Die Entscheidung, Maßnahmen zu treffen, sei „konservativ und vorsichtig“.

In Sellafield - dem ältesten und größten Atomkomplex in Europa - gibt es unter anderem ein Atomkraftwerk und eine Wiederaufbereitungsanlage. Zudem wird die Anlage zur Lagerung gigantischer Mengen nuklearer Abfälle verwendet. Die britische Regierung hatte mitgeteilt, dass sie in ständigem Kontakt mit den Betreibern der Anlage stehe und keinen Anlass sehe, von einem schwereren Vorfall auszugehen.

Außenansicht des Atomkraftwerks Sellafield in England

picturedesk.com/Picture Alliance/David Woodfall

Die gigantische Atomanlage ist die älteste in Europa und sorgt immer wieder für Schlagzeilen

Zuletzt wegen Wintereinbruchs abgeschaltet

Im vergangenen März musste der Betrieb der Atomanlage im Nordwesten Englands vorübergehend ausgesetzt werden, weil Sturmböen und Schnee die Sicherheit der Mitarbeiter gefährdeten. „Sellafield besteht aus mehr als 1.300 Gebäuden, und wenn die Anlage in Betrieb ist, gleicht sie einer kleinen Stadt - mit mehr als 10.000 Leuten, die dort arbeiten und sich auf dem Gelände bewegen“, erklärte der Betreiber damals.

Wegen der Sturmböen, des starken Schneefalls und der Tatsache, dass viele Straßen bereits gesperrt seien, sei es für die Arbeiter schlicht nicht sicher genug. Also versetzte der Betreiber die Atomanlage als Vorsichtsmaßnahme in „einen kontrollierten Abschaltungszustand“ und schickte die Beschäftigten der Wiederaufbereitungsanlage und Einrichtungen zu Lagerung von Atommüll nach Hause. Eine Gefahr für die Sicherheit der Anlage habe auch im März 2013 nicht bestanden.

Gigantisches Millionengrab

Erst vor knapp einem Jahr sorgte ein Untersuchungsbericht der parlamentarischen Finanzaufsicht für Aufregung in der Öffentlichkeit: Die Kosten der Aufräumarbeiten in Sellafield wurden damals auf 67,5 Mrd. Pfund (77,8 Mrd. Euro) geschätzt. Doch als wäre diese nackte Zahl nicht beunruhigend genug gewesen, sorgten vor allem die weiteren Aussichten für Entsetzen beim britischen Steuerzahler. So ging aus dem Bericht der National Audit Office (NAO) hervor, dass man offensichtlich nicht genau weiß, was es überhaupt zu entsorgen gilt. So gebe es keine Information über die Art der zu behandelnden Abfälle, die in den Silos und Becken gelagert sind, hieß es damals.

Verheerende Brandkatastrophe

Im Oktober 1957 brach im Reaktor von Windscale - wie die Sellafield-Anlage damals genannt wurde - ein Feuer aus. Der Reaktor diente der Erzeugung von Plutonium für den Bau von Atombomben. Es war einer der schwerwiegendsten Atomunfälle vor der Katastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986.

„Tschernobyl in Zeitlupe“

Greenpeace nannte Sellafield stets ein „Tschernobyl in Zeitlupe“. Die Küstenstreifen rund um die Atomanlage seien Plutoniummüllkippen. Der Geigerzähler zeige höhere Radioaktivitätswerte als in der Sperrzone rund um die Atomruine in der Ukraine, betonte Greenpeace.

Vor einigen Jahren wies eine wissenschaftliche Studie im Auftrag der Regierung auf eine ungewöhnliche Häufung von Blutkrebserkrankungen bei Kindern in der Gegend hin - ein Zusammenhang mit Sellafield konnte allerdings nicht nachgewiesen werden. 2009 bezeichnete der stellvertretende Geschäftsführer von Sellafield, George Beveridge, dieses als „das gefährlichste Industriegebäude in Westeuropa“.

Der letzte verheerende Unfall in Sellafield geschah im April 2005: Damals wurde ein Leck entdeckt, durch das etwa 83.000 Liter einer hochradioaktiven Flüssigkeit - bestehend aus Salpetersäure, Uran und Plutonium - monatelang unbemerkt entweichen konnten. Die Flüssigkeit wurde jedoch in der Anlage aufgefangen. Nach Angaben des Betreibers sind Teile der Anlage stark kontaminiert - das Risiko einer Kontamination habe für die Umwelt nie bestanden. Die Öffentlichkeit wurde erst Wochen danach informiert.

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