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Taxidermie im Kunstmuseum

Listet man literarische Schlüsselwerke über den Ersten Weltkrieg auf, dann ist eines immer dabei: Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“. Im Gedenkjahr 2014 hat das Antikriegsdrama dementsprechend Hochkonjunktur. In die unzähligen Rollen des Stücks schlüpfen heuer aber nicht nur Burg- und Volkstheater-Stars, sondern - im Essl Museum in Klosterneuburg - auch ausgestopfte Ratten.

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Kraus’ Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ entstand in den Jahren zwischen 1915 und 1917. Der Dichter, Satiriker und Publizist rechnet in dem Werk, das in mehr als 200 Szenen die Tragödie der Menschheit im Ersten Weltkrieg aufzeichnet, mit seiner kriegstreiberisch entfesselten Umwelt ab, fokussiert aber weniger auf die Gräuel der Front als auf die Dummheit, Verlogenheit und Gedankenlosigkeit quer durch alle Schichten der Gesellschaft.

Die österreichische Künstlerin Deborah Sengl, die bereits in früheren Werken ausgestopfte Tiere als Stellvertreter für menschliches Rollenverhalten verarbeitet hat, will in ihrer Ausstellung die Vorlage illustrieren, und gleichzeitig „demonstrieren, dass sich eigentlich nichts geändert hat“. Dafür hat sie nun rund 180 weiße Ratten in kleinen Szenen zu einer insgesamt raumgreifenden Installation arrangiert.

Der Nörgler als schwarze Ratte

Von den 200 meist kurzen Szenen hat sie 44 ausgewählt, die zusammen einen Querschnitt durch Schauplätze und Figuren der Vorlage geben. So tauchen Brigadiers, Journalisten, Invalide und Spekulanten genauso auf wie der Nörgler - Kraus’ Alter Ego -, der im Stück (gemeinsam mit dem Optimisten) die Rolle des Kommentators übernimmt.

Ausstellungsansicht

ORF.at/Zita Köver

Insgesamt 44 Szenen aus Karl Kraus’ Werk sind im Essl Museum ausgestellt, die dazugehörigen Zeichnungen dienen als „eine Art Legende“

Er ist auch die einzige schwarze Ratte, die in Sengls Panoptikum auftaucht, „weil er jene Person ist, die das von außen sieht, ein Außenseiter ist,“ so die Künstlerin. In dieser Hinsicht fühlt sich Sengl auch mit Kraus verwandt: „Uns ist ähnlich, dass wir uns beide ein bisschen aus einer gesellschaftlichen Szene herauszoomen.“

„Wesen, die zuerst an sich selber denken“

Dass sie ausgerechnet Ratten gewählt hat, um die Szenen nachzustellen, sei eine recht einfache Entscheidung gewesen, erläutert Sengl. „Ich finde, dass Ratten den Menschen ähnlich sind. Sie sind von den Tieren sicher die egoistischsten Wesen, die zuerst an sich selber denken.“

Künstlerin Deborah Sengl hinter ihrer Ratteninstallation

ORF.at/Zita Köver

„Sie sind uns ähnlich,“ begründet Deborah Sengl die Entscheidung, „Die letzten Tage der Menschheit“ mit Ratten zu illustrieren

Bei den Nagetieren, die - so heißt es im Begleittext - „nicht für die künstlerische Arbeit getötet wurden“, handelt es sich um Futterratten für die Greifvogel- und Reptilienzucht. Ein Tierpräparator verarbeitete die toten Ratten nach den Vorgaben Sengls, die die starren Rattenpuppen schließlich mit allerhand Requisiten zu den Tableaus arrangierte, um so „Kraus’ Werk lebendig werden“ zu lassen, wie der Pressetext der Ausstellung originellerweise erklärt.

Die trügerische Reinheit der weißen Ratten

Dabei ging Sengl mit viel Liebe fürs Detail vor. So sitzt etwa der Nörgler an einem Schreibtisch, der einem Modell von Adolf Loos nachempfunden ist, der wiederum ein guter Freund von Kraus war, Uniformen und sonstige Kostümteile sind mit hohem Anspruch an historische Korrektheit gefertigt.

Ausstellungsansicht

ORF.at/Zita Köver

Nur eine Figur aus dem umfangreichen Personal des Dramas wird in mehreren Szenen mit einer schwarzen Ratte dargestellt: der Nörgler, Karl Kraus’ Alter Ego

Wie die Tiere sind auch alle Ausstattungsobjekte rein weiß, laut Sengl eine bewusste Entscheidung, um der Szenerie den Schrecken zu nehmen - „es ist eine Reinheit die trügerisch ist.“ Denn auch wenn „Die Letzten Tage der Menschheit“ keine fortlaufende Handlung hat, wird das Werk von Akt zu Akt düsterer: Die Katastrophe naht unaufhaltsam und kündigt sich in der Ausstellung durch den zunehmenden Einsatz von farbigen Elementen - Blut, Urin und Alkohol - an. Zum Bruch der Unschuld quasi.

Ausstellungshinweis

„Die letzten Tage der Menschheit“, von 31. Jänner bis 25. Mai, Essl Museum Klosterneuburg, dienstags bis sonntags, 10.00 bis 18.00 Uhr, mittwochs 10.00 bis 21.00 Uhr. Zur Ausstellung ist ein Katalog (152 Seiten, 25 Euro) erschienen.

Possierliche Nager mit Knopfaugen

In den Zeichnungen, die einerseits dem Tierpräparator als Vorlage dienten und andererseits in der Ausstellung die Funktion einer Legende haben (auf ihnen sind Akt, Szene und Figuren vermerkt) ist das noch anders. Aber die Bilder sind nicht nur viel bunter als die weißen Installationen, sondern unterscheiden sich auch in einem weiteren, nicht unwesentlichen Merkmal: Die Ratten auf dem Papier haben den ausgestopften einiges voraus, was Mimik und Ausdrucksstärke anlangt. Letztere wirken zwar tatsächlich in Bezug auf Körperhaltung und Gestik fast menschlich, den kleinen mit Knopfaugen gespickten Gesichtern fehlt dann doch die sarkastische Komponente und damit die Überzeichnung der Karikatur.

Für Ausstellungsbesucher ohne Kraus-Kenntnisse mag es schwer werden, die Bedeutung der Realsatire anhand der Objekte und Zeichnungen zu erfassen. Als Ergänzung bietet das Essl Museum jedoch eine Lese- und Hörstation, in der man sich in die Bühnen- oder Hörspielfassung der „Letzten Tage der Menschheit“ vertiefen kann. Umzingelt von fast 180 weißen Ratten.

Sophia Felbermair, ORF.at

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