Angebliche Feinde im Staatsapparat
Selbst ein Witz über einen Schuhkarton kann in diesen Tagen in der Türkei politisch gefährlich sein. Der Parlamentsabgeordnete Muhammed Cetin soll aus der Regierungspartei AKP ausgeschlossen werden, weil er über die Kartons voller Bargeld scherzte, die im Dezember bei einem Hauptverdächtigen des derzeitigen Korruptionsskandals gefunden wurden.
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„Wieso bekommen wir eigentlich keine Kartons?“, fragte Cetin. Die Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan fand das überhaupt nicht witzig und will Cetin nun rauswerfen. Die bizarr anmutende Episode ist nur eines der merkwürdig anmutenden Ereignisse im Zusammenhang mit der Korruptionsaffäre. Da werden reihenweise Staatsanwälte und Polizisten abgelöst, gleichzeitig versucht die Regierung, mit einer Reform des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte die Kontrolle über die Justiz an sich zu reißen.
Polizei verweigerte Festnahmen
Erdogan lässt gleichzeitig die Ermittlungen der als regierungsfeindlich eingestuften Staatsanwaltschaft in Korruptionsfällen offen sabotieren: In Istanbul weigerte sich die Polizei zweimal innerhalb eines Monats, staatsanwaltschaftliche Anordnungen zur Festnahme von Verdächtigen auszuführen.
All das geschieht im Rahmen eines Kampfes der Regierung gegen angebliche Feinde im Staatsapparat. Mitglieder der Bewegung des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen, ein früherer Partner Erdogans, der sich mit der AKP überworfen hat, ist von der Regierung als Drahtzieher der angeblichen Verschwörung ausgemacht worden. Erdogan vergleicht die Gülen-Anhänger mit den mittelalterlichen Assassinen, eine islamische Sekte, die wegen ihrer brutalen Morde an geistlichen und politischen Führern berüchtigt war.
Erdogan sieht sich als Opfer
Istanbuler Staatsanwälte glauben, die Zahlung millionenschwerer Bestechungsgelder an Ex-Minister von Erdogan beweisen zu können - die Rede ist von mehr als 60 Millionen Dollar (44,1 Mio. Euro), die ein iranischer Geschäftsmann gezahlt haben soll, um Rückendeckung für Goldgeschäfte mit dem Iran zu erhalten. Auch Erdogans Sohn Bilal wurde im Zusammenhang mit dem Skandal genannt. Doch Erdogan weist alles zurück und spricht von einer politischen Kampagne, mit der die AKP kurz vor den Kommunalwahlen im März geschwächt werden soll.
Diese Sichtweise bildet das Raster für das Handeln der Regierung: In der Korruptionsaffäre sieht sie sich nicht als Täter, sondern als Opfer. Erst vor wenigen Tagen rief Erdogan die türkischen Botschafter in aller Welt auf, dies der Öffentlichkeit in ihren jeweiligen Einsatzgebieten zu erklären. Beim Besuch Erdogans in Brüssel nächste Woche dürfte dieser ebenfalls seine Interpretation der Ereignisse darlegen und von einem Putschversuch sprechen.
Bevölkerung laut Umfrage gespalten
Doch nicht einmal in der Türkei selbst glauben alle daran. Einer von der regierungsnahen Zeitung „Yeni Safak“ veröffentlichten Umfrage zufolge ist die Wählerschaft gespalten: 53 Prozent glauben demnach an Erdogans These, wonach die Korruptionsermittlungen ein Komplott der Gülen-Anhänger sind.
Türkische Regierungsskeptiker sowie Vertreter von EU und Europarat sind besorgt über die Haltung des Ministerpräsidenten. Mehrmals hat Brüssel eine transparente Aufarbeitung des Skandals gefordert. Nils Muiznieks, Menschenrechtskommissar des Europarats, kritisierte Erdogans Reformpläne für den Richterrat als „ernsthaften Rückschlag für die Unabhängigkeit der Justiz“. Ertugrul Günay, ein früherer Kulturminister Erdogans, der aus Protest gegen die Korruptionsaffäre aus der AKP ausgetreten ist, sieht die Türkei auf dem Weg in den Willkürstaat.
Schlüsselrolle für Gül
In dieser Situation kommt einem Akteur eine Schlüsselrolle zu: Staatspräsident Abdullah Gül hat die Regierung aufgefordert, bei der Reform des Richterrats auf dem Bodem der rechtsstaatlichen Grundsätze der EU zu bleiben. Die Frage ist, ob Gül sein Veto einlegen wird, falls sich Erdogan in seinem Zorn auf seine angeblichen Gegner nicht daran hält. Der Höhepunkt der politischen Auseinandersetzungen in der Türkei steht möglicherweise noch bevor.
Thomas Seibert/AFP
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