Im System des Bösen
Gibt es das absolut Böse und wenn ja, woher kommt es? Oscar-Preisträger Ruzowitzky hat es sich mit seinem ersten Dokumentarfilm „Das radikal Böse“ nicht leicht gemacht, will er doch die psychologischen Mechanismen hinter der Normalität des Bösen untersuchen. Mit ungewöhnlichen Mitteln gelingt ihm eine spannende Analyse des Unfassbaren.
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„Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlich ist, das sind die normalen Menschen.“ Das Zitat des jüdischen Schriftstellers und KZ-Überlebenden Primo Levi ist dem vom ORF-kofinanzierten Film vorangestellt und führt gleich zur Kernfrage von „Das radikal Böse“: Wie werden aus ganz normalen Männern Massenmörder? Warum töten junge Familienväter jahrelang unschuldige Frauen, Kinder und Babys? Und warum verweigerten so wenige den Befehl, obwohl sie laut eigener Aussage kaum Konsequenzen zu befürchten hatten?
Der vergessene Holocaust
Hintergrund von Ruzowitzkys Non-Fiction-Drama sind die systematischen Erschießungen jüdischer Zivilisten durch deutsche Einsatzgruppen in Osteuropa während des Zweiten Weltkrieges. Ab 1941 zogen Tötungskommandos monatelang von Dorf zu Dorf und ermordeten die aussortierte Bevölkerung öffentlich von Angesicht zu Angesicht. Dieser Genozid jenseits der Gaskammern und Konzentrationslager forderte rund zwei Millionen Opfer und ist trotzdem kaum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen.

Screenshot / Historisches Archiv Zhovka, Sammlung Emil Domanskyy
Opfer der Erschießungskommandos in der Ukraine
Stilistisch bedient sich Ruzowitzky einer so noch nie gesehenen Mischung aus Archivmaterial, Originalzitaten und von jungen Schauspielern nachgestellten Szenen in Split-Screens, die den Stimmen der Täter ein Gesicht geben. Man hört ihre Gedanken aus dem Off, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Gerichtsprotokolle werden von Schauspielern wie Devid Striesow, Simon Schwarz und Benno Fürmann vorgelesen. Statements von schonungsloser Offenheit und Authentizität machen den Zuschauer sprachlos: „Männer, Frauen, Kinder – alle umgelegt. Die Juden werden gänzlich ausgerottet. Liebe Heidi, mach dir keine Gedanken darüber, es muss sein.“
Die Alltäglichkeit des Mordens
Geschickt spannt der Film den Bogen von den ersten Einsätzen der jungen Soldaten, als noch Zweifel und Gedanken an Verweigerung vorherrschen, bis hin zu einer Alltäglichkeit des Mordens, an das man sich gewöhnt, während man sich einredet, dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen.
„Die weit verbreitete Meinung, dass Massenmörder wilde Bestien seien, ist absolut falsch“, kommt Benjamin Ferencz, Chefankläger bei dem Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess, zu Wort. „Massenmörder sind Leute wie Sie und ich, die glauben, dass das, was sie tun, richtig ist im Interesse des Gemeinwohls.“ Ruzowitzky lässt die Geschehnisse von Experten - Historikern, Juristen, Militärs, Theologen, Psychiatern - hinterfragen und einordnen. Ihre Erkenntnisse und Schlussfolgerungen führen alle zum selben Ergebnis: Das radikal Böse ist nicht unmenschlich, sondern im Gegenteil jedem Menschen eigen. Der Film zeigt die Matrix eines Systems, das böse ist und die Täter instrumentalisiert.

docMovie / Chistoph Rau
Sozialpsychologische Experimente werden in abstrakten Bühnenstücken nachgespielt
Um das Böse zu ergründen, wurden schon während der Nürnberger Prozesse mit den Angeklagten Testreihen durchgeführt. Die Ergebnisse des Rorschachtests etwa waren - wie es im Film heißt - zu verstörend, um veröffentlicht zu werden: Die getesteten Nazi-Verbrecher waren psychisch gesunde, ganz normale Männer. Das zeigen auch andere soziologische Experimente wie das Milgram- und das Stanford-Experiment, wo die Bereitschaft durchschnittlicher Menschen, sich autoritären Anweisungen unterzuordnen, getestet wurde. Diese Experimente werden im Film in abstrakten, kleinen Bühnenstücken nachgespielt - wie die Split-Screens ein weiteres, zeitgemäßes Stilmittel, um zu zeigen, dass es hier nicht um die Dokumentation historischer Ereignisse geht, sondern vielmehr darum, zu welchen Taten Menschen in bestimmten Situationen fähig sind.
Gehirnwäsche und Gruppenzwang
Schreckensbilder aus dem Archiv, wie man sie aus anderen Dokumentationen über das Dritte Reich kennt, verwendet Ruzowitzky sparsam bis gar nicht. Dafür zeigt er in schmerzlich langen Einstellungen das fröhliche Straßenleben einer Stadt in der westlichen Ukraine, dem sogenannten Jiddischland, wo jüdische Familien rund die Hälfte der Bevölkerung ausmachten. Die unbeschwerten Bilder machen umso betroffener, als klar ist, dass diese Menschen zu Opfern der deutschen Tötungskommandos werden.

docMovie / Chistoph Rau
Gerhirnwäsche durch NS-Propagandafilm: „Der Jude ist eine feige Bestie“
Scharfer Schnitt zur nächsten Szene: In „weltanschaulichen Schulungen“ werden den deutschen Soldaten NS-Propagandafilme gezeigt, in denen „der Jude“ als „feige Bestie“ bezeichnet wird, die nichts anderes als den Tod verdiene. Die Propaganda greift, wie die überlieferten Privataufzeichnungen der Soldaten zeigen: „Es muss tatsächlich der Jude hinter allem stecken, der uns vernichten und nachher über den Trümmern der Welt herrschen will. Und das darf nicht geschehen, komme, was wolle.“ Und: „Dieser Kampf muss bis zum Äußersten geführt und durchgekämpft werden. Dann wird die Welt ewig Frieden finden.“ Eine Art kollektive Gehirnwäsche verstärkt durch Gruppenzwang wird spürbar.
Kinohinweis
„Das radikal Böse“ ist ab Freitag in den heimischen Kinos zu sehen.
Prädikat „pädagogisch wertvoll“
Der innovative Stil gepaart mit den elektronischen Beats des Wiener DJs und Produzenten Patrick Pulsinger lässt vermuten, dass Ruzowitzky „Das radikal Böse“ vor allem für ein jüngeres Publikum gemacht hat. Der Film hütet sich davor, eindimensionale Erklärungsmuster zu präsentieren, sondern will zeigen, dass unter bestimmten Voraussetzungen in speziellen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen immer wieder neues Leid und Verbrechen entstehen kann. Als pädagogisch wertvoll im besten Sinne könnte man diese Dokumentation bezeichnen, die dem Zuschauer die alles entscheidende Frage mit auf den Weg gibt: „Wie hätte ich gehandelt?“
Sonia Neufeld, ORF.at
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