Paranoiasoftware fürs NSA-Zeitalter
Das private Universum des US-Schriftstellers William S. Burroughs ließe sich auch als Intranet des Bösen beschreiben. An seinem Netzwerk aus Symbolen und Exzessen arbeiten sich heute noch Fans und Wissenschaftler ab. Burroughs’ englischsprachiger Eintrag in der Wikipedia ist länger als der von Goethe oder Pokemon - denn Burroughs ist beides: Literat und Muppet der Gegenkultur.
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„Towerrrs opennn firee!“ knarzt die Stimme aus dem Notebook-Lautsprecher. Burroughs klingt in der Aufnahme aus den 1980er Jahren brüchig, jedes einzelne Wort wie mit dem Nachklang einer Klinge, die über den Wetzstahl gezogen wird, langsam. Vor hundert Jahren wurde der Schriftsteller geboren, die Aufnahme aber wirkt Äonen alt.
Warum beschäftigen sich Leser, Künstler und Biografen immer noch mit Burroughs’ Werken? Viele seiner Zeitgenossen aus der Beat Generation sind vergessen, selbst der Ruhm seiner engen Freunde Allen Ginsberg („Howl“) und Jack Kerouac („On The Road“) scheint allmählich zu verblassen, zu eng sind ihre Werke mit der Ära verbunden, die sie geprägt haben.
Literatur über Burroughs
In deutscher Sprache:
- Axel Heil (Hg.): William Burroughs: Cut. Verlag der Buchhandlung Walter König, 2013.
Biografien in englischer Sprache:
- Barry Miles: William Burroughs: El Hombre Invisible. Virgin Books, 2010.
- Ted Morgan: Literary Outlaw: The Life and Times of William S. Burroughs. W. W. Norton & Company, 2012.
- Victor Bockris: With William Burroughs: A Report From the Bunker. St. Martin’s Griffin, überarbeitete Fassung, 1996.
Neuerscheinungen (auf Englisch):
- Barry Miles: Call Me Burroughs: A Life. Twelve, 2014.
- Udo Breger, Harald Falckenberg, Axel Heil und Peter Weibel (Hg.): William S. Burroughs. Expanded Media. Verlag der Buchhandlung Walter König, 2013.
Terror, Angst und Paranoia
Burroughs’ Klassiker „Naked Lunch“ jedoch wirkt aktueller, als uns heute lieb sein kann. Denn das Buch ist ein inhaltlicher und formaler Exzess. Wenn es „failed states“ gibt, also gescheiterte Staaten, dann muss es auch „mad states“ geben, wahnsinnige Gesellschaften, zerfressen von Terror, Angst und Paranoia, und Burroughs ist ihr wichtigster Chronist. Sein Lieblingsort in „Naked Lunch“ ist die Interzone, ein Gebiet, in der nur ein Gesetz gilt, nämlich der Lieblingsspruch des Autors: „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.“
Dieses Motto hatte Burroughs dem Legendenschatz rund um Hasan-i Sabbah entrissen, den Gründer der Assassinen-Sekte. Die Interzone wiederum war ein Abbild der Hafenstadt Tanger, die von 1923 bis zur Unabhängigkeit Marokkos 1956 unter internationaler Verwaltung stand. Im Tanger der 1950er Jahre konnte der Schriftsteller die rigide Kultur der USA hinter sich lassen und überwinden. Hier gab es alles, was sein Herz begehrte: Opiumderivate rezeptfrei in der Apotheke und eine Kultur, die seine Homosexualität tolerierte.
Ausgesiebt und erledigt
Seine sexuellen Präferenzen hatten Burroughs, der aus gutbürgerlichem Hause stammte, schon in der Pubertät aus der vorgezeichneten Karrierebahn geworfen. In seiner Schulzeit im Cowboy-Internat Los Alamos wurde ihm klar, dass er schwul war - und dass die Gesellschaft diese Eigenschaft nicht schätzte.
Er zog sich zurück, schnitt sich in einem autodestruktiven Akt mit einer Geflügelschere eine Fingerkuppe ab. Die Mechanismen der US-amerikanischen Elite siebten ihn gnadenlos aus, als er sich im Zweiten Weltkrieg beim CIA-Vorgänger Office of Strategic Services (OSS) bewarb, wies man ihn ab, weil er in Harvard nicht zu den korrekten Verbindungen gehört hatte.
Leben als Blaupause
Schnell sank der junge Burroughs in die Unterwelt ab, wurde von Opiaten abhängig und geriet ständig mit dem Gesetz in Konflikt. Bis in die späten 1970er Jahre hinein befand er sich auf der Flucht vor diversen Polizeibehörden, finanziellen und zwischenmenschlichen Problemen. Ob als Hanfbauer in Texas, als Outlaw in Mexiko, als Forscher im eigenen Auftrag auf der Suche nach psychoaktiven Pflanzen in Südamerika - nirgendwo funktionierte Burroughs wirklich, nirgends passte er hin.
Wie ein menschlicher Flugschreiber zeichnete er alles auf, zur späteren Wiedervorlage in Träumen und im schreibenden Bewusstsein. Was Burroughs in einem satirischen Text einmal Ernest Hemingway vorgeworfen hatte, nämlich dass dessen Erfahrungen deckungsgleich mit seiner Kunst zusammenfielen, trifft auf ihn selbst vielleicht noch mehr zu, gerade dann, wenn er seine eigenen Taten aus der Satellitenperspektive des Autors betrachtete.
Assassinen und Maya
Das zentrale Thema von Burroughs’ künstlerischer Arbeit war die gesellschaftliche Kontrolle in all ihren Formen und Ausprägungen. In der Privatmythologie des Schriftstellers steuerte Hasan-i Sabbah seine jugendlichen Attentäter mit Drogen, die Priester der Maya zwangen ihre Untertanen in den erbarmungslosen Zyklus ihres Kalenders. Burroughs beschrieb diese Programme als Perversionen ihrer jeweiligen Führungskasten. Das trug ihm viele Feinde ein.
Burroughs misstraute daher auch dem eigenen Geschäft, der allzu glatten Erzählung, er setzte sie mit der Reproduktion der dominanten Herrschaftslogik gleich. „Naked Lunch“ ist bereits stark fragmentiert, die Texte seiner „Nova-Trilogie“ produzierte Burroughs mit der von ihm und Brion Gysin erfundenen „Cut-up“-Methode, montierte eigene Texte mit fremdem Material.
Unterbrechung des Programms
Die Schnitte sollten jede Programmierung unterbrechen, die Leser aus ihrer Konsumententrance schocken und neue Assoziationsfelder erschließen. Funktionieren sollte das ähnlich wie der Verfremdungseffekt im Brecht-Theater, tatsächlich schreckte die Technik aber auch seine treuesten Leser ab. Letztlich hatte Burroughs nur die aus der Arbeit für „Naked Lunch“ übrig gebliebenen Textfragmente mit Füllmaterial verschnitten, wie ein Dealer seinen Stoff.
Die guten Burroughs-Montagen jedoch erzeugen im Leser einen ähnlichen Effekt wie ein offener Webbrowser, in dem mehrere Tickeranwendungen und Soziale Netzwerke gleichzeitig laufen. Die Aufmerksamkeit springt, das Zeitgefühl verflüssigt sich, der Bewusstseinsstrom erhebt sich aus der Textebene und steigt mühelos auf ein höheres Niveau, folgt der Schneckenhausspirale eines fossilen Rauschzustands.
Paranoia auf NSA-Niveau
Burroughs ist heute noch mit uns, weil er die Grenzen gesellschaftlicher Kontrollmechanismen aller Art stellvertretend für seine Leser voll ausgetestet hat. Seine Paranoia hatte bereits in den 1950er Jahren die Qualität der Snowden-Ära erreicht.
Heute ist sie uns nicht mehr fremd, denn um jetzt bei jeder Bewegung staatlich erfasst zu werden, braucht man kein deklarierter Außenseiter mehr zu sein wie Burroughs, es genügt bereits, zu existieren, das Leben selbst ist die Abweichung geworden, die es zu registrieren und zu sanktionieren gilt. Dass Burroughs’ Werk an seinem 100. Geburtstag noch provokant und zeitgenössisch wirkt, ist kein gutes Zeichen für die westliche Zivilisation.
Günter Hack, ORF.at
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