System roher Gewalt
Wieder allgegenwärtig ist die Diskussion über russische Straflager, deren grausamen Alltag einst der sowjetische Dissident Alexander Solschenizyn (1918 bis 2008) öffentlich machte. Gerade aus russischer Haft entlassene politische Gefangene wie Michail Chodorkowsk und die Frauen der Punkband Pussy Riot berichten aus erster Hand von einem System roher Gewalt, Denunziation sowie von Folter und Kälte.
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Ihre Rückkehr in die Freiheit fällt fast genau auf den Jahrestag eines historischen Ereignisses, das einst bei vielen im Westen die Weltsicht veränderte. Das war vor 40 Jahren am 28. Dezember, als Solschenizyns Buch „Der Archipel Gulag“ erschien. Gulag, eine Abkürzung für „Hauptverwaltung der Lager“ (Glawnoje Uprawlenje Lagerej), ist bis heute ein Inbegriff stalinistischer Schreckensherrschaft. Die Lager wurden für rund 20 Millionen Menschen zum Schicksal, etwa zwei Millionen starben.
Dem Kommunismus menschliches Antlitz entrissen
Der Literaturnobelpreisträger Solschenizyn entlarvte in seinem dichterisch gestalteten Tatsachenbericht nicht nur die Sowjetunion als Diktatur. Er entriss dem Kommunismus an sich dessen menschliches Antlitz - auch dank seiner Übersetzerin Elisabeth Markstein, die im Oktober 2013 starb. Markstein übertrug die Abrechnung mit dem Stalinismus unter dem Pseudonym Anna Peturnig damals ins Deutsche. Sie hatte auch Briefe Solschenizyns aus der Sowjetunion geschmuggelt.
Besonders in Frankreich, wo das Buch zuerst erschien, bevor es Anfang 1974 auch auf Deutsch herauskam, reagierten viele Intellektuelle entsetzt angesichts des Staatsterrors im Osten, wie der im deutschen Bundestag beschäftigte Historiker Volker Schütterle erinnert. Nicht wenige hätten dem Kommunismus abgeschworen.
Schullektüre in Russland
Solschenizyns Werk sei „ein Meilenstein der literarischen Aufarbeitung sowjetischer Gewaltherrschaft“, schreibt Schütterle. Anders als in Frankreich aber sei in Deutschland der Kommunismus zur damaligen Zeit kein Massenphänomen gewesen - auch wegen der Nähe zum „real existierenden Sozialismus“ in der DDR. „Respekt, ja Sympathie für Leben und Werk der als moralische Instanz ersten Ranges gefeierten Schriftstellerpersönlichkeit aus Russland dominierten den Diskurs“, stellt Schütterle fest.
Auch der russische Staat hält Solschenizyns Andenken heute hoch. Kreml-Chef Wladimir Putin, der stets den tiefen russisch-orthodoxen Glauben Solschenizyns würdigte, ließ „Der Archipel Gulag“ 2009 zur Schullektüre machen. Menschenrechtler lobten diesen Schritt als wichtiges Gegengewicht für diejenigen, die heute den Sowjetdiktator Josef Stalin wieder in den höchsten Tönen loben. Historiker streiten gegenwärtig darüber, wie die schwierige Vergangenheit am besten in einem Geschichtsbuch für Schüler darzustellen sei.
Kritiker: System besteht fort
Solschenizyns Buch erschien in Russland erst 1990 am Ende des sich auflösenden Sowjetimperiums. Heute sind auch Ausgaben zu haben, in denen die Namen der mehr als 200 einstigen Inhaftierten nachzulesen sind, deren Schicksale Solschenizyn aufgriff. Es sind Erlebnisse aus Gefangenenlagern der Zeit 1918 und 1956, die Solschenizyn sammelte.
Zwar wurde die Behörde, die dem Gulag ihren Namen gab, nach Stalins Tod 1953 aufgelöst. Doch das System der Straf- und Arbeitslager besteht nach Meinung vieler im Grunde fort. 2009 kündigte der damalige Justizminister Alexander Konowalow an, der derzeitige Strafvollzug, „der noch auf Stalins Konzentrationslager zurückgeht“, solle durch ein milderes System wie in der „zivilisierten Welt“ im Westen abgelöst werden.
Die „Hölle auf Erden“
Die gerade aus den Straflagern entlassenen Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina von der Punkband Pussy Riot sagen, dass Russland davon weit entfernt sei. Sie wollen sich nun gemeinsam mit Menschenrechtsaktivisten dafür einsetzen, dass sich etwas bewegt. So beklagen sie etwa, dass der Staat die Lager weiter nutze zur Ausbeutung billiger Arbeitskräfte, die oft bis zu 14 Stunden am Tag schuften müssten. Menschenrechtsaktivisten kritisieren die Lage in Russlands Gefängnissen seit Jahren als „Hölle auf Erden“.
Ulf Mauder, dpa
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