Drei Daten stechen heraus
Das Jahr 2014 ist gespickt mit Jahrestagen von wahrlich historischer Dimension. 1914 beginnt nicht nur der Erste Weltkrieg. Vor 25 Jahren etwa fällt der Eiserne Vorhang, der Ostblock zerbröselt, der Kalte Krieg geht zu Ende.
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Aber welche historischen Daten sind wirklich wichtig? Welche Ereignisse haben die letzten 100 Jahre am entscheidendsten geprägt? Heimische Historikerinnen und Historiker kommen auf drei Schlüsseldaten, wenn sie Rückschau auf die letzten 100 Jahre halten.
Das Schweizer „Migros-Magazin“ hat diese Frage vor einigen Wochen prominenten Schweizer Historikern gestellt, aus Anlass des 50. Jahrestages des Kennedy-Attentats. Die Redaktionen von ZIB2 und ORF.at haben diese Idee weitergesponnen und dreißig der renommiertesten Historikerinnen und Historiker sowie Politologinnen und Politologen Österreichs befragt - nach den zehn wichtigsten Daten und Ereignissen der Weltgeschichte der letzten 100 Jahre und nach den fünf wichtigsten Ereignissen in Österreichs jüngerer Vergangenheit. Aus allen erwähnten Daten haben wir eine Gesamtliste der zehn meistgenannten gefiltert.
Was war wichtig? Eine Umfrage
Zu Beginn des historischen Gedenkjahrs 2014 nennen Österreichs prominenteste Historiker und Historikerinnen sowie Politologen und Politologinnen die zehn wichtigsten Ereignisse der letzten 100 Jahre. Eine Umfrage von ZIB2 und ORF.at. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer siehe Linkliste unten.
„Eigentlich eine mission impossible“
19 Forscherinnen und Forscher haben uns ihre Antworten geschickt (die Beteiligung von Männern war interessanterweise deutlich höher als jene von Frauen) - auch wenn nicht alle mit unseren Fragen glücklich waren: „Eigentlich eine mission impossible“, schrieb etwa Heidemarie Uhl von der Akademie der Wissenschaften.
Manche haben die Begriffe „Daten/Ereignisse“ sehr großzügig aufgefasst: „Es ist schwierig, wenn nicht unzulässig, historisch wirksame Ereignisse auf ein einziges Datum zu fixieren. Ich kann und will daher nur Prozesse nennen“, meinte Zeitgeschichtler Gerhard Botz.
Und Wirtschaftshistoriker Peter Berger scheiterte überhaupt („Verzeihen Sie, dass ich das nicht kann!“) - allerdings mit einer äußerst lesenswerten Erklärung - mehr zu allen Einzelrankings und Begründungen im Bericht „Die Begründungen im Einzelnen“.
1917, 1945 und 1989
Wenn man analysiert, welche Ereignisse wie oft und mit welchen Begründungen genannt wurden, zeigt sich übrigens, dass es im 20. Jahrhundert drei echte „Schlüsseljahre“ gab, die bei fast jedem Teilnehmer vorkommen: 1917, 1945 und 1989.
Auch alle anderen Daten der Gesamtliste wurden zumindest fünfmal genannt (ganz knapp nicht in die Top Ten geschafft haben es die Unabhängigkeit Indiens 1947, die Gründung des Staates Israel 1948 und die Finanzkrise 2008).
ZIB2-Beitrag zum Nachsehen
Die ZIB2 zeigte am Montag die Ergebnisse der Umfrage. Der Beitrag über die am häufigsten genannten Weltgeschehnisse wurde anschließend von Historiker Oliver Rathkolb im Studiogespräch erläutert.
Daneben wurden aber auch viele Ereignisse nur einmal aufgelistet, wie etwa die erste Ärmelkanal-Überquerung mit einem Motorflugzeug 1909 (Brigitte Bailer-Galanda), die erste Fernsehvorführung 1926 (für Gerhard Jagschitz gar die „nachhaltigste Veränderung der Gesellschaften der Welt), der erste Auftritt der Beatles 1960 (Helmut Konrad), das berühmte Jahr 1968 (Heidemarie Uhl), der Club-of-Rome-Bericht über die ‚Grenzen des Wachstums‘ 1973 (Kathrin Stainer-Hämmerle), das Ende der Apartheid in Südafrika 1994 (Gerald Stourzh) und die Verbreitung der Internetbrowser Netscape und Explorer 1994/95 (Eva Blimlinger).
Die zehn wichtigsten Daten der Weltgeschichte
Die letzten 100 Jahre
- 1914: Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo („Setzten den Mechanismus in Gang, der die ‚Welt von gestern‘ zerstörte“, meint Anton Pelinka), Beginn des Ersten Weltkriegs.

APA/dpa
- 1917: Kriegseintritt der USA, Oktoberrevolution in Russland („Das Schlüsseljahr im Ersten Weltkrieg. Beginn der bipolaren Welt“, so Helmut Konrad).

www.picturedesk.com
- 1929: Börsenkrach in New York, Weltwirtschaftskrise („Läutet die Krise des Kapitalismus ein, die dann die Faschisten/Nationalsozialisten an die Macht brachte“, kommentiert Günter Bischof).

AP
- 1933: Adolf Hitler wird Reichskanzler, Machtübernahme der NSDAP („Voraussetzung zum Zweiten Weltkrieg und dem Massenmord an den Jüdinnen und Juden, aber auch Behinderten und Roma und Sinti“, so Brigitte Bailer-Galanda).

AP
- 1939: Hitler-Stalin-Pakt, Angriff auf Polen, Beginn des Zweiten Weltkriegs („Aus einer nationalen Diktatur wird ein weltweites Problem“, kommentiert Kathrin Stainer-Hämmerle).

AP/Paramount News
- 1945: Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki („Eintritt in das militärische Atomzeitalter“, meint Manfried Rauchensteiner), Befreiung der Konzentrationslager, Ende des Zweiten Weltkriegs, Teilung Europas („Beginn des Kalten Krieges zwischen den neuen Supermächten“, befindet Stefan Karner), Gründung der UNO („Gewaltige, wenn auch nicht immer erfolgreiche Friedensidee“, so Gerhard Jagschitz).

AP/US-Armee
- 1949: Gründung der Volksrepublik China („deren Nachwirkungen die Welt derzeit prägen und noch in Zukunft auf profunde Weise beeinflussen werden“, schreibt Reinhard Heinisch).

AP
- 1960: Einführung der Anti-Baby-Pille („Eine kleine Tablette verändert die Möglichkeiten der Lebensgestaltung für die Hälfte der Menschheit grundlegend“, so Stainer-Hämmerle).

AP/Jerry Mosey
- 1989: Fall der Berliner Mauer, Revolutionen in Mittel- und Osteuropa („Implosion des Sowjetsystems und Ende des Kalten Kriegs. Beginn einer multipolaren Welt", findet Helmut Konrad).

Reuters
- 2001: 9/11 und die Folgen („Islam vs. Westen, ‚War on Terror‘ vs. ‚War on Islam‘, Terrorismusdebatten, Überwachungsstaat“, schreibt Helga Embacher).

Reuters/Sara K. Schwittek
Natürlich sind solche Listen nicht mehr als ein Gedankenspiel. Moderne Geschichtswissenschaft ist über die Fixierung auf konkrete Daten und fest umgrenzte Ereignisse längst hinaus (siehe vor allem auch die Beiträge von Botz, Berger und Uhl). Trotzdem können solche Gedankenspiele Ausgangspunkt für Reflexion und Debatten sein. Die Redaktionen von ZIB2 und ORF.at freuen sich auf Kommentare.
Von Armin Wolf, ZIB2
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