Hunger, Armut - und Brasilien als Ausweg
Edgar Reitz’ hatte in der Vergangenheit Filme im Rahmen seines „Heimat“-Zyklus vorgelegt, mit denen er Fernsehgeschichte schrieb - weil manche Teile so lang waren, dass sie zerstückelt als TV-Serie gezeigt wurden. Nun legt er einen vierten Teil zur Heimat im deutschen Hunsrück vor.
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„Ist es vernünftig, vier Stunden Zeit damit zu verbringen, einen Schwarz-Weiß-Film anzuschauen, der in einem rheinischen Loch im 19. Jahrhundert spielt? Mit Bauern, die vor Hunger krepieren und zurückgebliebenen Krautjunkern?“, fragt die Pariser Tageszeitung „Le Monde“. Und gibt die Antwort: „Ja, absolut."Die französische Kritik ist voll des Lobes über "Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht“ (Filmstart Österreich 3. Jänner), Edgar Reitz’ neuen Film, der das große europäische Thema des millionenfachen Exodus in die Neue Welt aufgreift, jedoch nicht zeigt, wie es den Auswanderern des 19. Jahrhunderts in Amerika ergeht.
Stattdessen wird verfolgt, wie die Daheimgebliebenen einmal zähneknirschend ihrem kargen Tagwerk nachgehen und brutale Willkürherrschaft erdulden, dann wieder resigniert ihre Siebensachen auf den Planwagen packen und - kein Blick zurück - ihre Heimat für immer verlassen. Oder sie begeben sich wie die jugendliche Hauptfigur Jakob Simon in innere Emigration: Jakob verschlingt fremdsprachige Bücher von Forschern und Abenteurern, die über die Indianersprachen, Dschungelgewächse und tropischen Schmetterlinge Brasiliens geschrieben haben.
Der Tod gehört zum Alltag
Edgar Reitz hat aufwendig und detailverliebt noch einmal jenes fiktive Hunsrück-Dorf Schabbach nachbauen lassen, das schon seiner erfolgreichen „Heimat“-Trilogie als Schauplatz diente. Nach Kulisse sieht es glücklicherweise nicht aus. Hier wächst Jakob Simon (Jan Dieter Schneider) heran, den Kopf in den Wolken, ständig bedroht von Beschimpfungen und Schlägen des Vaters, der für das süße Gift, das sein Sohn aus den Buchseiten saugt, kein Verständnis hat. Nur die Mutter (es gibt ein Wiedersehen mit der großartigen Marita Breuer aus „Heimat 1“) und der Onkel fördern die Sehnsucht Jakobs und sorgen dafür, dass er in seinen Verstecken im Wald nicht aufgestöbert und auf den Boden der schnöden Tatsachen zurückgeholt wird.
Hunsrück 1842, das bedeutet: Ein Leben unter der preußischen Knute in Gestalt von engstirnigen Landadeligen und ihnen hörigen Gendarmen; Festungshaft für alle, die zu laut ein Wort des Aufruhrs äußern. Es bedeutet: Missernten, Hunger, Bigotterie, Unversöhnlichkeit zwischen Katholiken und Evangelischen. Der Tod gehört zum Alltag: extreme Kindersterblichkeit, Seuchen, unzureichende Nahrung.
Realismus und poetische Überhöhung
In diesem Schabbach, das immer mehr ausblutet, wachsen nun Jakob und sein bodenständiger Bruder Gustav (Maximilian Scheidt) heran. Dramaturgisch bedient sich Edgar Reitz einmal mehr des Off-Kommentars, um den Film voranzubringen. Jakob, als einziger des Lesens und Schreibens kundig, erzählt in ebenso schlichten wie erhebenden Worten von seiner wachsenden Sehnsucht nach Brasilien, wo es keinen Winter gibt, und vom schönen Jettchen (Antonia Bill), die Jakobs romantische Natur erkennt und mit ihm auswandern will. Doch das Leben will es anders: Jettchen wird - bei einem Dorffest gibt es zu viel kostenlosen Wein für alle - von Gustav schwanger und heiratet ihn, auch wenn beide sich kaum kennen.
„Die andere Heimat“ zeichnet das Leben, Lieben und Sterben in jener unnachahmlichen Mischung aus präziser Beobachtung von Milieu und Figuren und poetischer Überhöhung nach, für die Edgar Reitz vollkommen zu Recht berühmt ist. Zur Seite stehen ihm mit Sorgfalt, ausgesuchte Laien- und Profidarsteller (allen voran Jan Dieter Schneider, im richtigen Leben Medizinstudent und neben ihm in einer kleinen Gastrolle Werner Herzog als Alexander von Humboldt), ein einfühlsamer, gleichwohl nie sich in den Vordergrund drängender Soundtrack und vor allem die Kameraarbeit von Gernot Roll, von Anfang an Reitz’ treuer Gefährte.
Ein neuer Blick auf Flüchtlingsströme
Wie von jeder Schwerkraft befreit schwebt Rolls (hochauflösende digitale) Kamera durch enge Behausungen, verwinkelte Dorftennen oder wogende Weizenfelder. Die schwarz-weißen Breitwandbilder sind souverän in Szene gesetzt, brillieren einmal durch zarte Graustufen, dann wieder durch herbe Kontraste, und wie als impressionistischen Effekt streut Gernot Roll in ausgesuchten Momenten Farbe ein: warmes rotbraunes Licht in einem durchscheinenden Achat, die bläulichen Blüten eines Leinfeldes, Spuren von Rot nach einem Blutsturz von Jakobs Mutter.
„Die andere Heimat“ ist ein Stück regional begrenzte Auswanderungsgeschichte und könnte doch ebenso gut anderswo in Europa spielen. Wer dem Film nüchtern und unbeeindruckt folgt, wird sagen, hier haben sich Tag für Tag Wirtschaftsflüchtlinge in eine vermeintlich bessere Welt aufgemacht. Nicht zuletzt schärft der Film, auch das wollte Edgar Reitz zeigen, den Blick auf die Situation 170 Jahre später: Europa war schon immer geprägt von Fluchtbewegungen. Wirtschaftsflüchtlinge, politische Flüchtlinge, deren Freiheit mit Füßen getreten wird - wer kann die Gemengelage aus unterschiedlichsten Schicksalen schon auseinanderhalten?
Freibier für Auswanderungswillige
In der „Anderen Heimat“ tauchen Abgesandte des brasilianischen Königs auf: Mit Versprechungen kostenloser Schiffspassagen in die Neue Welt, Ackerland für alle und Freibier, damit den armen Familien ihre Entscheidung leichter fällt, werben sie mit Schalmei und Trommelschlag für ihr Land. Die Lockrufe bleiben nicht unerhört, was sich historisch niedergeschlagen hat: In vielen von deutschen Einwanderern in Brasilien gegründeten Gemeinden ist das Hunsrücker Platt heute zweite Amtssprache und wird mehr und mehr gepflegt.
Doch wer sich im Laufe des 225-minütigen Films, der wie im Flug vergeht, wirklich nach Brasilien einschiffen wird - das ist eine der vielen Überraschungen, die das Leben und das sorgfältig ausgearbeitete Drehbuch (Edgar Reitz und Gert Heidenreich) bereithalten.
Alexander Musik, ORF.at
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