„Blick für Psychosomatik fehlt“
Österreich ist psychisch krank, kränker als offiziell angenommen. 900.000 Menschen werden zurzeit psychologisch oder psychiatrisch behandelt, davon 840.000 mit Psychopharmaka.
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Aber dazu kommt noch eine enorme Dunkelziffer, wie Mitte Dezember von der Universität Salzburg bekanntgegeben wurde: Demnach wird ein Drittel der Fälle gar nicht erst diagnostiziert. Manfred Stelzig - Psychiater, Psychotherapeut und Leiter des Sonderauftrages für psychosomatische Medizin im Universitätsklinikum Salzburg - sagte: „Man kann davon ausgehen, dass 1,2 Mio. Österreicher psychisch krank sind.“
Warum nach wie vor so viele Patienten nicht behandelt werden, liege daran, dass es als peinlich empfunden werde und karriereschädlich sei, an psychischen Erkrankungen zu leiden oder das zuzugeben. „Außerdem fehlt vielen praktischen Ärzten und auch dem medizinischen Personal in den Krankenhäusern der klinische Blick für die Psychosomatik. Man klärt organische Ursachen ab, und wenn da nichts herauskommt, werden die Patienten oft alleine gelassen.“
„Merkwürdiges Phänomen“
Stelzig erneuerte die altbekannte Forderung nach Psychotherapie auf Krankenschein, nach einer besseren psychiatrischen Ausbildung der Turnusärzte und nach Einführung eines Facharztes für Psychosomatik nach dem Vorbild Deutschland. „Obwohl das gesamtwirtschaftliche Einsparungspotenzial durch die psychosomatische Medizin hervorragend dokumentiert ist und nicht mehr infrage gestellt werden kann, wehren sich Kassen und Gesundheitspolitik mit Händen und Füßen. Das ist ein merkwürdiges Phänomen, das wohl auch damit zu tun hat, dass in den Beratergremien überwiegend Somatiker sitzen.“
Das Problem ist allerdings weniger eine grundlegende Ablehnung aufseiten der Kassen - vielmehr spießt es sich bisher an der Frage, wie viel eine Therapiestunde kosten soll. Hier waren den Kassen die Forderungen der Therapeuten bisher immer zu hoch.
Dabei geht es laut Stelzig nicht um den üblichen psychologischen Faktor, der gesamtmedizinisch gesehen bei vielen organischen Problemen beteiligt ist. „Wir reden hier von echten Angststörungen, Depressionen, somatoformen Störungen, Suchtkrankheiten, schweren Schlafstörungen, Demenz und anderen explizit als Probleme der Psyche definierten Krankheitsbildern.“
„Krankenhausaufenthalte sind wirklich teuer“
Die fallweise durchaus zeitaufwendige Behandlung dieser Krankheiten sei keinesfalls teuer, argumentierte Stelzig. „Abgesehen davon, dass Nichtdiagnose und Nichtbehandlung dieser Erkrankungen zu unnötigem Leid der Patienten führt und die Lebensqualität schwer beeinträchtigt, könnte mit konsequentem Behandeln viel Geld gespart werden. Denn was wirklich teuer ist, sind Krankenstände, Krankenhausaufenthalte und Krankengeld.“
Stelzig verwies auf eine Reihe von Studien aus Deutschland. „Manfred Zielke von der Universität Mannheim hat in seiner großangelegten Versuchsreihe 300 Patienten sechs Wochen lang behandelt und dann drei Jahre lang beobachtet. Eine ebenfalls 300 Patienten umfassende Vergleichsgruppe wurde nicht behandelt und nur beobachtet. Fazit: In der behandelten Gruppe sanken die Krankenhausaufenthalte um 50 Prozent, die Krankenstände um 15 Prozent. Die Kassen ersparten sich bei diesen 300 Patienten insgesamt 20 Prozent an Gesamtkosten.“
Eine Studie der Sozialversicherung kam 2012 zum Schluss, dass die Zahl der Betroffenen stark im Steigen ist. Demnach nahmen rund 900.000 Österreicher das Gesundheitssystem wegen psychischer Erkrankungen in Anspruch. Ohne Spitalskosten werden demnach bis zu 560 Mio. Euro dafür aufgewendet. Laut Sozialversicherung ist die Versorgung psychisch Kranker grundsätzlich vorhanden, auch diese Studie räumt aber „Defizite“ ein.
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