„Existiert an jeder Klinik“
Unter dem bewusst provokanten Motto „Sind Kinder DOCH kleine Erwachsene?“ hat sich die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) diese Woche bei ihrer Jahrestagung in Innsbruck einem medizinischen Problem gewidmet, über das oft betreten geschwiegen wird: der geläufigen Verschreibung von Medikamenten für Kinder, die gar nicht für sie gedacht sind.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Wenn es nicht gerade um häufige Kinderkrankheiten oder übliche Infekte geht, wird das Angebot an Arzneien für Kinder dünn: Viel zu wenige Medikamente sind in pädiatrischer Hinsicht erschöpfend klinisch getestet. Oft genug bleibt tatsächlich nichts anderes übrig als die Annahme, dass Kinder wie halbe oder geviertelte Erwachsene zu behandeln sind. Oft sind Ärzte mit der Medikation von Kindern überhaupt mit einem Fuß im Kriminal.
Jeder tut es, keiner redet darüber
Pharmafirmen können - oder wollen - die Belastung eigener Testreihen für Kinder nur selten auf sich nehmen. Die entsprechenden Medikamente sind dann einfach nicht für Kinder und Jugendliche zugelassen. Die behandelnden Ärzte sitzen damit oft zwischen allen Stühlen: Der Hersteller des Medikaments will von einer Verwendung seines Präparats in der Kinderheilkunde nichts wissen, die jungen Patienten und ihre Erziehungsberechtigten erwarten jedoch Hilfe.
Das geläufige Schlagwort dabei lautet „off Label“ („abseits des Etiketts“). Es bedeutet in diesem Zusammenhang die Verschreibung von Erwachsenenmedikamenten in der Kinder- und Jugendheilkunde. Die Brisanz des Problems ist allein daran zu erkennen, dass zahlreiche Mediziner gegenüber ORF.at nur unter Zusicherung von Anonymität bestätigen wollen, dass „Off Label“-Verschreibungen gerade in der Spitzenmedizin gang und gäbe sind.
An Kindern ist kaum etwas zu verdienen
Das Problem hat auch einen kommerziellen Aspekt: Je seltener ein Medikament gebraucht wird, desto enger kalkulieren Pharmafirmen. Vor allem in der Krebsbehandlung, der Intensivmedizin, bei Herzkrankheiten und in der Versorgung von Frühgeborenen gibt es drängende Probleme. Wie der steirische Spitzenmediziner Reinhold Kerbl in Innsbruck betonte, wird das Problem sogar immer drängender: Gerade kostengünstige Medikamente würden zusehends vom Markt verschwinden, weil sie den Herstellern „unökonomisch“ erschienen.
Neue Medikamente treten nur selten an die Stelle der alten. Wie Mediziner ebenfalls hinter vorgehaltener Hand betonen, hätten auch Pharmafirmen die Bevölkerungspyramide - mit ihren sinkenden Geburtenraten - vor Augen und sähen somit eher ältere Menschen in westlichen Industriegesellschaften als wichtigsten Kundenkreis. Bei manchen Firmen herrsche offenbar das Denken vor: „Das Bisserl, das ich mit den Kindern verdienen kann, die noch dazu so leicht sind und ganz geringe Dosierungen brauchen ...“, so Kerbl gegenüber ORF.at.
Ärzte „auf eigenes Gutdünken angewiesen“
Der Steirer redet als einer von wenigen Medizinern offen über das Problem. „Off-Label-Use existiert an jeder Klinik“, unterstreicht er. Es bleibe den Ärzten auch keine andere Wahl. Nur in den allerwenigsten Fällen bestehe jedoch eine reelle Gefährdung, beruhigt er - und in diesen Fällen sei vor allem die unmittelbare Gefahr einer Nichtbehandlung viel größer. Freilich seien Ärzte bei der Verwendung von Medikamenten „zu 80 Prozent auf eigenes Gutdünken“ angewiesen.
Es gibt allerdings Grund zur Hoffnung. Seit die EU das Thema auf die politische Agenda gesetzt hat, bewegt sich etwas. Auch für Österreich gebe es „gute Nachrichten“, so Kerbl mit Verweis auf die heimische Initiative „O.K.ids“. Die im Mai unter Patronanz des Gesundheitsministeriums ins Leben gerufene Plattform will einen Brückenschlag zwischen Medizinern und der Pharmabranche erreichen und trägt inzwischen erste Früchte.
Brückenschlag zwischen Arzt und Pharmabranche
„O.K.ids“ ist im Wesentlichen ein Finanzpool zur Finanzierung und Unterstützung von klinischen Studien in der Kinder- und Jugendmedikation, den das Gesundheitsministerium und der Verband der heimischen Pharmaindustrie, die Pharmig, je zur Hälfte mit 150.000 Euro ausstatten. Das Programm ist auf fünf Jahre Laufzeit ausgelegt. Danach, so die Hoffnung, soll das Konzept beide Seiten überzeugt haben und ohne zusätzliche Hilfe von selbst laufen.
Nach Einschätzung Kerbls setzt das Programm an der richtigen Stelle an. Bisher sei jede der beteiligten Seiten mit den Anforderungen, „dass man die Studie überhaupt auf die Beine stellt“, alleingelassen worden - etwa dem „großen administrativen Aufwand“ mit „vielen Kilo Papier“, der Prüfung durch Ethikkommissionen und vielem mehr. Die ersten Kontakte und Projekte unter dem Schirm von „O.K.ids“ gäben jedoch Grund zur Hoffnung. Wenn einmal eine „gute Sache“ im Laufen sei, könne man das „ja auch einmal sagen“, so Kerbl zuversichtlich.
Lukas Zimmer, ORF.at
Links: