Querbeet durch die Wissenslandschaft
Die Sachbücher der Saison entführen den Leser in denkbar unterschiedliche Themengebiete. Von der sexuellen Revolution der 60er und 70er Jahre über Molekularküche bis hin zu den großen Tragödien des 20. Jahrhunderts.
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So viel Sex muss sein
Dank muss man einmal mehr dem Verlag Rogner und Bernhard für eine Wiederentdeckung aussprechen. Neun Jahre lang stieg Gay Talese von 1971 bis 1982 als Reporter selbstlos mit halb Amerika ins Bett, um über die sexuelle Revolution einerseits und über die Realität in US-Schlafzimmern andererseits zu schreiben. Sein Buch ist eine literarische Reportage. Talese berichtet genauso aus einer Freie-Liebe-Kommune wie von stinknormalen Paaren, die er über die Jahre dutzendfach interviewt hat. En passant entsteht auch eine Geschichte der Befreiung der Frau - einmal aus anderer Perspektive. Das Buch ist wundervoll geschrieben, voll Respekt für seine Protagonisten, jede einzelne Seite ist zwingend, man will es nicht aus der Hand legen. Und selbstverständlich ist es zeitlos. Sex geht immer.
Gay Talese: Du sollst begehren. Auf den Spuren der sexuellen Revolution. Rogner und Bernhard, 672 Seiten, 30,80 Euro.
ORF.at/Zita Köver
Küchenlabor im Eigenbau
Um effektiv Wärme in die Schenkel eines Brathendls zu leiten reichen Stahlnägel, der schnellste Weg zum Bräunen eines Steaks führt über einen Gasbrenner, und eine Marinara gelingt am besten im Schnellkochtopf. Geht es nach dem selbst ernannten Küchenmissionar Nathan Myhrvold ist die 2011 in einem sechsbändigen Mammutwerk präsentierte „modernistische Küche“ auch ganz ohne Hightech-Labor umsetzbar. Ob Myhrvold, der vor seiner derzeitigen Berufung bei Microsoft Millionen verdiente, die von ihm ausgerufene Küchenrevolution nun in die heimischen Küchen bringen kann, bleibt dahingestellt - Abwechslung ins Kochbuchregal bringt „Modernist Cuisine at Home“ allemal.
Nathan Myhrvold, Maxime Bilet: Modernist Cuisine at Home, Taschen Verlag, 676 Seiten, 99,99 Euro.
Österreichische Küche - neu erzählt
Noch einmal Küche - diesmal vielleicht etwas profaner, aber deshalb um nichts weniger spannend: Peter Peters „Kulturgeschichte der österreichischen Küche“. Peter lässt dabei nichts anbrennen: Er gibt historische Rezepte im Originaltext wieder (herrlich zu lesen), bis zurück ins 18. Jahrhundert - und erzählt Geschichten dazu, macht Zusammenhänge sichtbar. Das Buch ist zum Schmökern, Schmunzeln und Entdecken genauso geeignet wie als Kochbuch.
Peter Peter: Kulturgeschichte der österreichischen Küche. C. H. Beck, 260 Seiten, 22,60 Euro.
Wie Arme „ticken“
Warum scheitern so viele ambitionierte Entwicklungshilfeprojekte und verfehlen haushoch ihr Ziel, Armen zu helfen? Eine ebenso irritierend einfache wie einleuchtende Antwort darauf gibt „Poor Economics. Plädoyer für ein neues Verständnis von Armut“: Weil Politiker und NGOs Vorurteile haben, wie es armen Menschen geht. Und weil sie nicht verstehen und es den Armen nicht zugestehen wollen, dass diese, salopp gesagt, genauso „ticken“ wie Wohlhabendere. Anhand konkreter Beispiele schildern die Autoren, dass und warum für Arme der Kauf eines Fernsehers wichtiger sein kann als mehr oder besseres Essen, warum es für viele Eltern logisch ist, Söhne zu bevorzugen und warum Mikrokredite wichtig, aber kein Allheilmittel sein können.
Abhijit V. Banerjee, Esther Duflo: Poor Economics. Plädoyer für ein neues Verständnis von Armut, Knaus, 383 Seiten, 23,70 Euro.
So aufregend ist es hier - und jetzt
Bogumil Balkansky schreibt über eine wilde Welt. Marginalisierte Künstler und Medienschaffende, Migrantenkultur, Drogen, schneller Sex, Familie, Freundschaft und Zusammenhalt, Stardom im „Problembezirk“. Die Rede ist nicht vom New York der 70er Jahre, sondern von Wien im Hier und Jetzt. In der Redelsteiner Dahimene Edition sind nun Balkanskys Glossen aus DaStandard.at erschienen. Bei solchen Sammlungen merkt man oft, dass Kolumnisten dieselbe Story wieder und wieder schreiben. Nicht so Balkansky. Seine Texte gewinnen sogar noch in der geballten Form. Balkansky schreibt richtig gut - lustig, dreckig, intelligent, gegenwartsgesättigt.
Bogumil Balkansky: Auf Neuseeland sind Briten die Tschuschen. Balkanskys gesammelte Kolumnen. Redelsteiner Dahimene Edition, 252 Seiten, 16,90 Euro.
ORF.at/Zita Köver
Ein Buch über die Unhöflichkeit - kein Benimmbuch
Bei einem Buch über die Unhöflichkeit befürchtet man eine altvaterische Benimmfibel. Im Fall von Thomas Mießgang: weit gefehlt, darauf weist schon der Titel „Scheiß drauf“ hin. Ihm geht es in seinem Essay um die Gleichgültigkeit, in der die Menschen einander in der kapitalistischen Gesellschaft der 2010er Jahre behandeln. Allen voran Politik und Wirtschaft. Wichtig ist ihm der Unterschied zwischen Unhöflichkeit als Subversion (Punks, Kunst) und Unhöflichkeit aus Ignoranz (Lobbyismus, Politikerlügen). Höflich ist demnach, wer den anderen wahrnimmt und sich entsprechend benimmt - und nicht, wer weiß, wo der Kaviarlöffel neben dem Teller liegen muss.
Thomas Mießgang: Scheiß drauf. Die Kultur der Unhöflichkeit. Rogner und Bernhard, 206 Seiten, 20,60 Euro.
Lohnt sich Verbrechen doch?
Verbrechen interessieren immer. Noch mehr Interesse rufen sinistre Gangsterorganisationen hervor. John Dickie legt mit seinem Buch „Omerta“ eine umfassende Geschichte der größten italienischen Verbrecherclans vor. Er zeichnet deren Entwicklung vom lokalen Machtfaktor zu international operierenden Organisationen mit weltweiten Netzwerken nach. Das Buch strotzt nur so von Erpressungen, Morden, Manipulationen, Erpressung, Kidnapping, Betrug und Drogenhandel. Dickie zog für sein Buch zahlreiche Originaldokumente wie etwa Polizeiberichte heran.
John Dickie: Omerta. Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra, ’Ndrangheta. S. Fischer, 896 Seiten, 25,70 Euro.
Annäherung an die „Urkatastrophe“
Historiker sind sich einig: Die Ermordung des Thronfolgers von Österreich-Ungarn war jener Funke, der zum vielfach als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichneten Ersten Weltkrieg führte. Die Frage nach den Ursachen beschäftigt dennoch bis heute die Geschichtsforschung. Geht es nach Christopher Clark, ist das Thema schlichtweg zu komplex, um es mit einfachen Antworten - und auf wenigen Seiten - abzuhandeln. Neue Erkenntnisse liefert aber auch Manfried Rauchensteiner, der sich dem anstehenden 100. Jahrestag des Kriegsbeginns mit einem ebenfalls gewichtigen Standardwerk zu nähern versucht. Im Mittelpunkt der Ereignisse stand nicht zuletzt das imperiale Wien, das laut Alfred Pfoser und Andreas Weigl mit seiner fatalen Kriegserklärung gegen Serbien zum „Epizentrum des Zusammenbruchs“ wurde.
Christoph Clarke: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. DVA Verlag, 896 Seiten, 41,20 Euro.
Manfried Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburger-Monarchie, Böhlau Verlag, 1.200 Seiten, 45 Euro.
Alfred Pfoser, Andreas Weigl: Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Metroverlag, 692 Seiten, 35 Euro.
ORF.at/Zita Köver
Das sture Genie
Der Titel sagt bereits alles über das Buch: „Der Beweis des Jahrhunderts. Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman“. Masha Gessen, eine russische Autorin und Journalistin, die sich zuvor unter anderem mit einer Biografie über Wladimir Putin einen Namen gemacht hat, widmet sich nun einem seltsamen Genie. Perelman löste eines der größten Rätsel der Mathematik - und verschwand dann von der Bildfläche, in der kleinen Wohnung seiner Mutter, stur und enttäuscht von der Welt. Seine packende Geschichte reicht von der Sowjetunion bis in die späten 2000er Jahre.
Masha Gessen: Der Beweis des Jahrhunderts. Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman. Suhrkamp, 322 Seiten, 23,60 Euro.
Kleopatra - die spannende Wahrheit
Stacy Schiff ist ordentlich etwas gelungen: ein historisches Werk, das korrekt ist bis hin zur Detailversessenheit - und trotzdem keine Seite lang fad. Sie widmet sich dem Leben von Kleopatra, räumt dabei mit gängigen Mythen auf und zeigt, dass das, was man über die Wahrheit weiß, eigentlich viel spannender ist. Luzide ist auch ihr Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Antike. Eine historische Biografie, von einem Blickwinkel aus betrachtet, der quer durch die Disziplinen frisch wirkt.
Stacy Schiff: Kleopatra. Ein Leben. Bertelsmann, 448 Seiten, 25,70 Euro.
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Büchners Revolte
Als Georg Büchner, der vor 200 Jahren geboren wurde, im Alter von nur 23 Jahren starb, hatte er mehr erlebt und geschaffen als die allermeisten Menschen in einem langen Leben. Vier literarische Werke hinterließ er, die die Zeit überdauern sollten, darunter die Bühnenwerke „Woyzeck“ und „Leonce und Lena“. Doch auch sein revolutionäres Erbe („Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“) kann sich sehen lassen: Anstiftung zum Umsturz, Richtungsstreitigkeiten innerhalb der Bewegung, Verfolgung, Scheitern, Flucht - und das alles wegen Forderungen, die auch heute noch so gestellt werden könnten. Jan-Christoph Hauschild erzählt Büchners Leben in einer Biografie so spannend wie kenntnisreich.
Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Verschwörung für die Gleichheit. Hoffmann und Campe, 352 Seiten, 23,70 Euro.
Camus vs. Sartre - das ist Brutalität
Zum 100. Geburtstag von Albert Camus ist eine Biografie von Literaturkritikerin und „Zeit“-Feuilletonchefin Iris Radisch erschienen. Gleich zwei Kapitel widmet sie der Konkurrenz und Feindschaft zwischen Camus und Jean-Paul Sartre. Sartre verachtete den bildungsfern aufgewachsenen „Moralisten“ Camus, der wiederum hielt Sartre für einen eitlen Geck und Schaumschläger. Radisch beschreibt Camus als einen Mann, der zwischen zwei Lebenspolen zerrissen ist: Paris und der intellektuellen Boheme einerseits, seiner Herkunft, den einfachen Verhältnissen und dem mediterranen Denken andererseits. Radisch hat eine sehr literarische Biografie geschrieben - nur manchmal etwas „verschwurbelt“.
Iris Radisch: Camus. Das Ideal der Einfachheit. Rowohlt, 351 Seiten, 20,60 Euro.
Der globale Einkindvorschlag
Ein hochgradig seltsames, aber bemerkenswertes Buch hat Alan Weisman geschrieben: „Countdown. Hat die Erde eine Zukunft?“ Er fordert darin eine globale Einkindpolitik, bis die Bevölkerungszahl auf jene von 1900 geschrumpft ist. Anders als in China soll das jedoch nicht unter Zwang geschehen. Die Umwelt wäre gerettet, weil weniger Ressourcen verbraucht würden. Eine Welt, bevölkert nur von Einzelkindern? Weisman meint, die Chinesen seien trotzdem soziale Menschen. Über Weismans These lässt sich trefflich streiten, sie ist ein Gedankenexperiment.
Alan Weisman: Countdown. Hat die Erde eine Zukunft? Piper, 573 Seiten, 25,70 Euro.
Eine historische Reise ans Mittelmeer
Auf Englisch galt das Buch von Cambridge-Professor David Abulafia bereits kurz nach Erscheinen als Standardwerk und Klassiker - nun ist „Das Mittelmeer. Eine Biografie“ auch auf Deutsch erschienen. Abulafia nähert sich dem Raum nicht über die Geschichte der einzelnen Staaten, sondern tatsächlich das Meer und seine Anwohner betreffend - eine neue, gewinnbringende Perspektive. Der Historiker beginnt 22.000 v. Chr. und lässt seine Ausführungen 2010 enden. Abulafia kann schreiben, und Karten sowie Fotografien runden das Buch ab. Ein Lektüreerlebnis für historisch Interessierte.
David Abulafia: Das Mittelmeer. Eine Biografie. S. Fischer, 960 Seiten, 35 Euro.
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Ein besonderer Bildband
Eine großartige Geschenkidee für Kunstliebhaber ist der vom Leiter des Hauses der Gugginger Künstler, Johann Feilacher, herausgegebene Bildband „small formats“. 431 Seiten Kunst pur, jede Seite ein Bild von den Stars der Truppe, darunter August Walla, Oswald Tschirtner und Johann Garber. Die Bilder sind postkartengroß - wie auch das Buch. Der Witz dabei: Die Zeichnungen wurden nicht auf das Format eingedampft, sondern sind bereits im Original so klein. Humor, Sex, Philosophie: In diesen Bildchen gibt es vieles zu entdecken.
Johann Feilacher: small formats. Residenz Verlag, 431 Seiten, 24,90 Euro.
Eine Schule, die fürs Leben fit macht
Man kennt ihn: Erwin Wagenhofer, Regisseur der international erfolgreichen Dokus „We Feed the World“ und „Let’s Make Money“. Heuer hat er sich dem Bildungssystem gewidmet und dazu auch ein Buch veröffentlicht: „Alphabet. Angst oder Liebe“. Darin erzählt der Regisseur gemeinsam mit zwei Autoren vom Filmdreh, von Menschen, die sie kennengelernt haben. Wagenhofer fordert eine Schule, die fürs Leben fit und stark macht, wo man ein „Haltungsalphabet“ vermittelt bekommt. Schüler kommen zu Wort und auch Eltern, die ihre Kids selbst unterrichten.
Erwin Wagenhofer, Sabine Kriechbaum, Andre Stern: Alphabet. Angst oder Liebe. Ecowin, 213 Seiten, 19,95 Euro.
Nach Kolumbus: Eine neue Welt durch Austausch
Charles C. Mann hat die Geschichte des Zusammenwachsens der Erde aus einer neuen Perspektive erzählt: wie im Gefolge von Kolumbus „Menschen, Tiere und Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen“. Das Buch ist mit 800 Seiten äußerst umfangreich - aber Mann versteht es, kurzweilig zu erzählen und durch die Darstellung ungeahnter Zusammenhänge zu überraschen. Die Welt änderte sich durch die „Entdeckung“ der „Neuen Welt“ auf jede nur erdenkliche Weise - hier wird erklärt, wie. Vom „Time“-Magazin über die „Washington Post“ bis zur „Süddeutschen Zeitung“ waren alle Rezensenten schlichtweg begeistert.
Charles C. Mann: Kolumbus’ Erbe. Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen. Rowohlt, 807 Seiten, 36 Euro.
ORF.at/Zita Köver
Gesellschaftskritik als Leckerbissen
Engagierte Essays, Polemiken, Reden, Dramolette und Satiren der letzten 20 Jahre versammelt Richard Schuberths „Rost und Säure“ in drei Bänden. Die Themenpalette spannt sich von Kulturalismus und Neoliberalismus über Rassismus und Migrantendiskurs bis hin zu den Balkan-Kriegen. Besondere literarische Leckerbissen sind die Porträts von Denis Diderot, Johann Nestroy, William Congreve, Ambrose Bierce und Oscar Wilde. Hier ergreift einer das Wort, der Gesellschaftskritik scharfsinnig mit hoher Sprachkunst verquickt. Dabei pflegt Schuberth einen geistreichen Witz und flamboyanten Sarkasmus, ohne aber je zynisch zu werden. Das macht seine kompromisslose Essayistik auch zu einem ästhetischen Vergnügen und großen Lesespaß.
Richard Schuberth: Rost und Säure. Drava, 460 Seiten, 29 Euro.
Der Manipulator auf dem Heiligen Stuhl
Der Historiker Volker Reinhardt entwirft in seiner Biografie über Pius II. ein buntes pralles Gemälde der Renaissance mit all ihren Widersprüchen. Pius II, bürgerlich Silvio Enea Piccolomini, ist ein archetypischer Vertreter seiner Zeit. Als Humanist und Schriftsteller schlüpfriger Liebesgeschichten bekannt geworden, trat er an, die Kirche zu reformieren, und stellte dann doch die eigenen Interessen vor jene des Heiligen Stuhls. So ließ er seinen Geburtsort Corsingnano nahe Siena vollkommen umgestalten, um sie für ungeheure Summen aus den Kassen des Vatikans in die Renaissancestadt Pienza - nach ihm benannt - zu verwandeln. Und auch seine Vergangenheit und sein öffentliches Bild wusste er gekonnt zu manipulieren.
Volker Reinhardt: Pius II. Piccolomini: Der Papst, mit dem die Renaissance begann. C. H. Beck, 392 Seiten, 25,70 Euro.
So brutal war die Antike
Mit der Darstellung von Gewalt in der Antike beschäftigt sich Martin Zimmermann. Doch nicht nur deren Repräsentation in Literatur und darstellender Kunst interessiert den Althistoriker, vielmehr versucht er auch dahinter zu blicken und bezieht auch die Erfahrungswelt der alten Griechen und Römer mit ein. Die Traumatisierung der Bevölkerung, aber auch der Heroen und Kriegshelden nimmt dabei einen breiten Platz ein. Was heißt es eigentlich, wenn Tausende nach einer verlorenen Schlacht hingerichtet werden? Welche Auswüchse hat das noch auf die kommenden Generationen? Zimmermann zieht in seinem Werk auch immer Parallelen zu unserer eigenen medial vermittelten Erfahrung mit Gewalt, um der antiken Darstellung so mehr Fleisch und Blut zu geben.
Martin Zimmerman: Gewalt: Die dunkle Seite der Antike. DVA, 416 Seiten, 25,70 Euro.
Sage mir, was du isst
Korn hat die Menschheit sesshaft gemacht. Hansjörg Küster beschäftigt sich mit der Geschichte der Kulturpflanzen und schildert damit die Geschichte der Menschheit. Bereits vor Tausenden von Jahren waren die Kultivierung von Pflanzen und die damit einhergehenden landwirtschaftlichen Techniken Vorboten der Globalisierung und des Fortschritts. Getreide in allen Formen ist immer noch das weltweit wichtigste Nahrungsmittel. Von den Anfängen im Orient bis zu Gentechnik und den Agrargiganten unserer Tage schlägt Küster dabei den Bogen und vergisst andere Kulturpflanzen wie etwa Hanf und Obst nicht.
Hansjörg Küster: Am Anfang war das Korn: Eine andere Geschichte der Menschheit. C. H. Beck, 298 Seiten, 25,70 Euro.
ORF.at/Zita Köver
Das Universum und die Kuschelpolster
Einen neuen Weg, die Geschichte des Universum darzustellen und zu erzählen, schlägt die Kommunikationsdesignerin Daniela Leitner ein. Da werden Teller zu Sonnen und Wollfäden zu deren Strahlen, mit Hilfe von kuscheligen Polstern wird die Relativitätstheorie erklärt, und auch sonst weiß Leitner vom Kleinen zum Großen schwierige quantenphysikalische und kosmische Prozesse mit Leichtigkeit, Verve und einfachsten Mitteln darzustellen. Ein vollkommen neuer Ansatz abseits des altbekannten Sonnensystems aus Kirschen, Äpfeln Orangen und Melonen. Ein Buch, dass auch vehemente Physikmuffel und Kinder zu begeistern weiß.
Daniela Leitner: Als das Licht laufen lernte: Eine kleine Geschichte des Universums. C. Bertelsmann, 864 Seiten, 51,40 Euro.
Physik zum Kuscheln
Apropos kuscheln. Selten hat man in einem Buch über Physik eine so herzige Bebilderung gesehen wie hier: Physiker, Autor und Moderator Werner Gruber, eng umschlungen mit einem Teddybären. Erklärt werden in diesem Kapitel seines physikalischen Sammelsuriums die Gesetzmäßigkeiten des Kuschelns: „Es gibt einfache Plüschtiere, die ihre Oberflächentemperatur der Außentemperatur anpassen, und Kuschelwesen wie uns Menschen, die eine konstante Oberflächentemperatur besitzen.“ So macht Physik Spaß - quer durch die Themenpalette, in dieser Neuauflage.
Werner Gruber: Unglaublich einfach. Einfach unglaublich. Ecowin, 293 Seiten, 19,95 Euro.
Was Alkohol aus Menschen macht: die SMS
Eigentlich war schon nach dem ersten Band klar, dass man einen zweiten nicht empfehlen können würde. Jetzt ist der dritte erschienen. Ein allerletztes Mal geht es doch noch: die gesammelten, teils erfundenen, teils echten Einträge der Beste-SMS-Sammel-Website „SMS von gestern Nacht“. Diesmal mit dem Titel: „Ich bin da, aber die Haustür nicht.“ Wer wissen will, was Alkohol aus Menschen macht, wer herzhaft lachen möchte ohne Niveauverdacht, der wird hier gut bedient. Ein komplett sinnfreies, lustiges Büchlein. Beispiel: „2.55 Uhr: ‚Ey Hasu, ich brauch endlich deinen Penis hier bei mir im Bett...‘ - 7.31 Uhr: ‚Guten Morgen, mein Schatz. Ich erinnere dich jetzt zum letzten Mal: Dein Freund heißt Paul und nicht Papa!‘“
Anna Koch, Axel Lilienblum (Herausgeber): Ich bin da, aber die Haustür nicht. rororo, 10,30 Euro.
Tragödien am Eisernen Vorhang
Es ist ein Kapitel auch der heimischen Geschichte, das nicht in Vergessenheit geraten darf: Die Tragödien am Eisernen Vorhang entlang der österreichischen Grenze betreffen auch Österreich. Zumal die Geheimdienste der Tschechoslowakei auch hier, etwa in Salzburg und Wien, höchst aktiv waren. Stefan Karner und sein Forschungsteam des Ludwig Boltzmann Instituts arbeiten dieses Kapitel auf in ihrem spannenden Buch, das auch nicht mit Bildmaterial geizt (von Akteuren, aber auch Spionagematerial, Karten).
Stefan Karner: Halt! Tragödien am Eisernen Vorhang. Die Verschlussakten. Ecowin, 213 Seiten, 21,90 Euro.
ORF.at/Zita Köver
Kriminalliteratur als Spiegel der Gesellschaft
Vor allem Krimifreunde mit geisteswissenschaftlicher Ausbildung werden sich über Luc Boltanskis „Rätsel und Komplotte“ freuen. Boltanski weist den Zusammenhang zwischen Kriminalliteratur, Paranoia und der Entwicklung der modernen Gesellschaft nach. Sherlock Holmes, Maigret, Hercule Poirot: Sie sind Aufklärer, aber nicht im selben Geiste. Was ist die „Realität der Realität“ von Kriminalliteratur? Bei Holmes etwa blickt die Aristokratie auf eine verdorbene Gesellschaft herunter. In modernen Thrillern geht es nicht selten um Komplotte - die nicht einmal kriminell sein müssen, wenn ein Staat dahintersteht (und das muss kein totalitärer sein).
Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft. Suhrkamp, 515 Seiten, 40,10 Euro.
Am Ende der Welt
Anne sitzt in der Oper, als draußen die Nazis im Rahmen der Novemberpogrome morden. Ihre Liebe zur Musik bringt die Enkelin der großen jüdischen Familie Gallia in Gefahr. Für den nächsten Tag ist die Flucht nach Australien geplant. Mit im Gepäck: die Kunstsammlung ihrer Großeltern, eine der bedeutendsten des Fin de Siecle in Wien. Ähnlich wie Edmund de Waal in „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ spannt der Historiker Tim Bonyhady, Sohn von ebendieser Anne, den Bogen über drei Generationen seiner Familie. Bis zu dem Tag, an dem seine Mutter in Sydney Besuch aus Wien bekommt: Der Kunstsammler Rudolf Leopold habe ein dubioses Angebot gemacht.
Tim Bonyhady: Wohllebengasse. Zsolnay, 448 Seiten, 25,60 Euro.
Scheitern, aber bitte mit Stil
Christian A. Pongratz ist regelmäßiger Gastautor in heimischen Medien, spätestens seit seinem letzten Buch „Betriebsdesaster“. Dessen These greift er nun auch im Nachfolgewerk „erfolgLos“ auf: Man muss den Leuten nur genau genug erklären, wie sie am allerbesten scheitern - damit sie das dann vielleicht doch nicht tun. Der Untertitel diesmal: „Anleitungen.zum.scheitern.mit.stil“. Humor garantiert - und man lernt etwas: Unternehmensberatung einmal anders.
Christian A. Pongratz: erfolgLos. Anleitungen.zum.scheitern.mit.stil. durchdacht.cc, 139 Seiten, 24,50 Euro.
Mankell über Mankell
Kirsten Jacobsen hat Henning Mankell besucht, auf Reisen begleitet, beobachtet und Interviews geführt. Daraus ist ihr Buch „Mankell über Mankell“ entstanden. Dass Mankell mehr ist als sein Kommissar Wallander, weiß man. Hier erklärt er sich im Detail - und offenbart sich nicht zuletzt als schwierige, sehr von sich selbst eingenommene Persönlichkeit. Einfache Antworten darf man von ihm nicht erwarten, auch nicht bei politischen Themen. Kluge Antworten schon. Mankell spricht aber auch über seine schwierige Kindheit, sein Leben in Afrika, seine Frau - und zu Wort kommt auch Mankells Sohn, der in Schweden die Filmrechte seines Vaters managt. Man lernt Mankell hier vielleicht nicht lieben, aber doch etwas besser kennen.
Kirsten Jacobsen: Mankell über Mankell. Zsolnay, 335 Seiten, 22,60 Euro.
Simon Hadler, Peter Bauer, Peter Prantner, Guido Tiefenthaler, Karina Schwann, Armin Sattler, alle ORF.at
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