Comics, auf dem Tablet serviert
Für den US-amerikanischen Zeichner Scott McCloud ist das Web eine endlose Leinwand, auf der sich immer neue Geschichten erzählen lassen. Während sich viele Medienprofis angesichts der Herausforderungen durch das Netz in verkrampften Abwehrgesten üben, kommt die lange verachtete Kunstform des Comics im Internet erst so richtig zu sich.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
„Kann sein, dass das Internet mich eines Tages in die Armut stürzt“, so Scott McCloud im Gespräch mit ORF.at, „Ich wäre aber lieber arm, als dass ich in einer Welt leben müsste, in der das Netz nicht mehr frei wäre.“ Scott McCloud ist 53 Jahre alt, er kommt aus einer Kultur, die von rechten wie linken Konservativen lange als vulgär denunziert worden ist, eben wie heute das Netz. Er ist Comiczeichner, und er hat seine Kunstform dadurch befreit, dass er ihre Geschichte erzählt und ihre Produktionsbedingungen veranschaulicht hat, und zwar ausschließlich in grafischer Form. Man kann sagen, dass Scott McCloud dem Mediensystem Comics mit diesem Kunstgriff Selbstbewusstsein verliehen hat. Dieses Selbstbewusstsein gilt es nun, in die Medienzukunft zu übertragen.

ORF.at/Günter Hack
Kunstgriff: Scott McCloud bewies, dass man Comics als Comic erklären kann
Geschichte der Bilder als Bildergeschichte
Sein Werk „Understanding Comics“, das auf Deutsch seltsamerweise „Comics richtig lesen“ heißt, ist im Original vor 20 Jahren erschienen und ist heute ein Klassiker. Im Jahr 2000 veröffentlichte McCloud sein Buch „Comics neu erfinden“, in dem er aufzeigte, wie sich seine Branche durch das Netz verändern würde.
Scott McCloud live
Scott McCloud zeigt am Samstag, den 9. November, ab 17.00 Uhr anlässlich der Erich-Fried-Tage im Literaturhaus Wien seine „visual lecture“, einen Vortrag mit mehreren hundert Grafiken.
„Ich habe mich damals mit drei Themen befasst“, so der Zeichner, „mit der Produktion, mit Vertrieb und mit der Form von Comics im digitalen Umfeld. Bei den ersten beiden Themen lag ich einigermaßen richtig. Die Szene hat sich entscheidend ausgeweitet, deckt viel mehr Themen, Erzählformen und Stile ab, vor allem zeichnen heute viel mehr Frauen Comics als noch in den 1980er Jahren, und die Kunstform ist heute salonfähig. Mir hat einmal auf einer Veranstaltung in Berlin der damalige US-Botschafter in Deutschland gesagt, seine Tochter wolle Comiczeichnerin werden und mich gefragt, wo sie das am besten lernen könne.“

Zeichnung: Scott McCloud
McClouds Alter Ego: Vom Zeichner zum Medienjongleur
Problem Kleingeld
Beim letzten großen Thema von „Comics neu erfinden“ hat McCloud sich verschätzt. Er trat vehement für die Einführung von Micro-Payment-Systemen ein, mit denen die Nutzer den Künstlern übers Netz unkompliziert Geld zukommen lassen können. Mit den seither aufgekommenen App Stores ist das zwar möglich, der Zeichner sieht aber die Gefahren der Dominanz großer Konzerne. „Ich mag die Geräte von Apple sehr, aber die Konzentration von Medienmacht in einigen wenigen Händen kann nicht gut sein. Es wollte einmal jemand eine iPad-Version von James Joyce’ Klassiker ‚Ulysses‘ als App herausbringen, da hat Apple sie erst einmal gestoppt, weil darin Sex vorkommt. Ein echtes Internetzahlungssystem müsste frei, neutral und universell einsetzbar sein, nur dann würde es den Kreativen nutzen.“

Zeichnung: Scott McCloud
Der Zeichner erklärt das Netz der Netze
Konservative Webcomics
Webcomics gibt es viele, McCloud hält die meisten davon aber für zu konservativ: „Viele Leute arbeiten noch so wie auf Papier. Der Gedanke dahinter ist, dass man eine populäre Arbeit aus dem Netz dann ohne großen Aufwand in ein gedrucktes Buch übertragen und verkaufen kann. Der Ansatz ist aber falsch. Wenn eine Arbeit wirklich gut werden soll, dann muss sie möglichst gut an das jeweilige Mediensystem angepasst sein. Das Web funktioniert anders als Bücher und auch anders als Geräte mit Touchscreen. Wir stehen da noch am Anfang, in Zukunft werden wir immer besser auf die einzelnen Medientypen und Endgeräte eingehen können und eine neue Sensibilität dafür entwickeln.“
Comics über Comics:
Bisher hat Scott McCloud drei Theoriebücher über seine Kunstform verfasst:
- Comics richtig lesen (1993)
- Comics neu erfinden (2000)
- Comics machen (2006)
Die Bücher erschienen auf Deutsch im Carlsen Verlag, Hamburg.
Als McCloud in den 1980er Jahren zum Zeichner ausgebildet worden sei, habe es nur die Möglichkeit gegeben, auf Papier zu veröffentlichen. „Das hat Papier als Medium für uns unsichtbar gemacht“, sagt er, „heute sehe ich, wie junge Zeichner sehr sorgfältig Papier und Art der Bindung auswählen. Das Buch als Objekt erfährt im Kontrast zu den digitalen Verbreitungsformen eine ganz neue Wertschätzung.“ Digitale Comics böten wieder andere Vorteile: „Der Umgang mit Farben ist auf leuchtenden Bildschirmen ganz anders, und die Verwendung von Farben kostet keinen Aufschlag, wie im Druck. Außerdem kehren wir im Netz wieder zu Formen von Bildergeschichten zurück, die aus der Zeit vor dem Buchdruck stammen und bei denen man das Auge lange nicht vom Fluss der Bilder nehmen muss, wie bei ägyptischen Hieroglyphen, der römischen Trajanssäule, dem Teppich von Bayeux oder Maya-Codices.“
Links:
Beispiele für Webcomics, die mit Scroll-Techniken und Animationen arbeiten.
Die unendliche Leinwand
Eine von McClouds Lösungsvorschlägen für digitale Präsentationsprobleme ist die ‚unendliche Leinwand‘, eine Erzählform, in der sich McCloud in mehreren seiner Onlinearbeiten ausprobiert hat. Dabei können sich von einem Erzählstrang auch mehrere Seitenlinien abspalten, denen der Nutzer dann nachspüren kann. „Man muss sich als Zeichner im digitalen Medium entscheiden, welche Metapher man wählen will: Die Seite oder das Fenster“, sagt McCloud. Bei der ‚unendlichen Leinwand‘ steuert der Nutzer den Bildschirmausschnitt wie ein Fenster auf die Welt des Künstlers.

ORF.at/Günter Hack
Scott McCloud in Fleisch und Blut
Im Internet stehen Comics in Konkurrenz zu zahlreichen anderen Formen der Kommunikation, vor allem mit den schnellen Informationsströmen des Sozialen Webs. Für Profis, die vom Comiczeichnen leben wollen, öffne sich hier ein spannungsreiches Konfliktfeld, so McCloud. „Viele Zeichner betreiben eigene Websites, die zum Teil sehr profitabel sind, mit eigenen Foren für Kommentare und mit Shops, in denen sie Merchandising-Artikel verkaufen. Sie verdienen also mit ihrer eigentlichen Arbeit, den Comics, kaum mehr Geld, sondern nur noch mit Werbeartikeln, also den zahllosen ablenkenden Elementen ringsum. Das ist nicht immer gut, das macht was mit einem. Ich persönlich schätze Arbeiten, die den Leser in eine eigene Welt mitnehmen, längere Geschichten, wie die Bücher von Chris Ware. Diese Arbeiten haben es in einem von Multitasking geprägten Umfeld manchmal schwer.“
Medienbruch als Chance
Nach all den Comictheoriebüchern zeichnet McCloud nun selbst wieder an einer langen Geschichte mit dem Arbeitstitel „The Sculptor“. „Es ist eine Geschichte, die mir eingefallen ist, als ich 20 Jahre alt war“, sagt McCloud, „ich blicke also auf meine eigene Jugend zurück, das ist ein spannender Prozess.“ Tuschfeder, Radierer und Zeichenkarton hat McCloud beiseite gelegt. „Ich arbeite mit einem Grafiktablett mit eingebautem Bildschirm. Das ist viel sauberer. Ich gehe analytisch vor, das entspricht nun einmal meinem Charakter, ich nehme gerne Abstand von meinen Zeichnungen und korrigiere viel.“
Die Zukunft der Comics sieht McCloud trotz aller Probleme optimistisch. „Comics haben die Krise der gedruckten Medien bisher ganz gut überstanden, weil man sie einfach als Bücher ganz besonders schätzt. So ein Buch fühlt sich einfach gut an. Ich glaube, Comics können sich besonders gut an die verschiedenen Mediensysteme anpassen. Wer in Zukunft damit Erfolg haben will, muss für Web oder Papier ein feines Gespür entwickeln und genau auf das gewählte Medium hinarbeiten. Ansonsten zeichnet sich der Comic wie alle Kunstformen ja gerade dadurch aus, dass man ihn nicht erschöpfen kann. Es ist einfach nicht vorstellbar, dass alle Bücher irgendwann geschrieben, alle Bildergeschichten gezeichnet sind.“
Wichtig sei nur, dafür zu sorgen, dass die technischen Grundlagen, etwa die Standards für Kommunikationsprotokolle im Netz, frei bleiben. McCloud, der auch eine Erklärung der Rechte von Zeichnern mitverfasst hat, weiß, wie wichtig es ist, Freiheitsgrade zu bewahren, denn die Geschichte der Comics ist voll von Genies, die von gewieften Verlegern um alle ihre Rechte gebracht worden sind. Das Internet berge zwar Gefahren, habe aber die Karten zugunsten der Kreativen neu verteilt. „Die Möglichkeiten“, so schließt der Zeichner, „sind unendlich.“
Günter Hack, ORF.at
Links: