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Zahl der Lecks „atemberaubend“

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat dem Ölkonzern Shell vorgeworfen, die Ursachen für Öllecks in Nigeria bewusst zu verschleiern, um Schadenersatzzahlungen zu entgehen. Die Zahl der Öllecks im südlichen Niger-Delta sei „atemberaubend“, erklärte die Organisation am Donnerstag.

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So habe Shell seit Anfang 2012 allein 348 Lecks in der Region gemeldet, die nigerianische Tochter des italienischen Ölkonzerns ENI fast 1.000. Dabei mache Shell regelmäßig Öldiebstahl verantwortlich, obwohl die wirkliche Ursache von Lecks möglicherweise eine vernachlässigte und verrottete Infrastruktur sei, kritisierte Amnesty.

Zwei Männer in einem ölbenetzten Tümpel

APA/AP/Sunday Alamba

Die Umwelt ist durch die zahlreichen Lecks stark belastet

Vorfälle teilweise „fragwürdig“

„Shells Angaben zu Öllecks kann man nicht vertrauen“, sagte Amnesty-Vertreterin Audrey Gaughran. Finanziert und kontrolliert würden die Ermittlungen zur Ursache von Öllecks größtenteils durch den Konzern selbst. Shell versuche, andere für das Austreten von Öl verantwortlich zu machen, sagte Styvn Obdoekwe von der nigerianischen Nichtregierungsorganisation CEHRD, die den Bericht gemeinsam mit Amnesty vorlegte. Die Untersuchungsberichte zu solchen Vorfällen seien teilweise „fragwürdig“.

Bub vor einem ölbenetzten Fluss

APA/EPA/Marten Van Dijl

Die Säuberungsarbeit im Niger-Delta kann Jahrzehnte dauern

AI: Laxer Umgang mit Sicherheitsvorkehrungen

Ein Sprecher der nigerianischen Shell-Tochter wies die Vorwürfe zurück. Pipeline-Sabotage durch Rohöldiebe, die Leitungen anzapften und das Öl auf dem Schwarzmarkt verkauften, seien hauptverantwortlich für die Ölverschmutzung im Niger-Delta, betonte er.

Nigeria ist der größte Ölproduzent in Afrika südlich der Sahara und der achtgrößte Ölexporteur weltweit. Dennoch leben die meisten Bewohner des ölreichen Niger-Deltas in bitterer Armut. Das Delta leidet nach mehr als 50 Jahren Ölförderung unter extremer Umweltverschmutzung. Umweltschutzorganisationen werfen den großen Ölkonzernen vor, in Nigeria wesentlich laxer mit Schutzmaßnahmen umzugehen als beispielsweise in den USA und Europa - was Shell bestreitet.

Entschädigungsangebot „lächerlich“

Bewohner des Niger-Deltas hatten Mitte September ein Angebot von Shell über Entschädigungszahlungen für Ölverschmutzungen zurückgewiesen. Es sei keine Einigung über Schadenersatzzahlungen erzielt worden, teilte Shell Mitte September mit. Etwa 15.000 Bewohner der Fischergemeinde Bodo im Bundesstaat Rivers fordern Entschädigung für zwei Ölkatastrophen, die das Gebiet im Jahr 2008 verschmutzt hatten.

Nach Angaben aus Verhandlungskreisen bot der britisch-niederländische Konzern den Anrainern insgesamt 7,5 Milliarden Naira (rund 35 Mio. Euro) an. Beide Seiten nannten keine Gesamtzahl. Martyn Day von der Londoner Anwaltskanzlei Leigh Day, welche die Anrainer von Bodo vertritt, sagte lediglich, jeder Betroffene würde nach dem Angebot von Shell 275.000 Naira (rund 1.300 Euro) erhalten, wenn die an die Gemeinschaft zu zahlende Summe abgezogen würde. Die Gemeinde habe das Angebot einstimmig abgelehnt. Das Angebot des Ölkonzerns sei „vollkommen lächerlich und beleidigend für die Dorfbewohner“, sagte Day.

UNO-Bericht zieht bittere Bilanz

Nach Angaben der Anwälte der Betroffenen verschmutzte auslaufendes Öl zweimal im Jahr 2008 die Umwelt so sehr, dass Bauern und Fischer ihrer wirtschaftlichen Grundlage beraubt wurden. Demnach liefen zwischen 500.000 und 600.000 Barrel Öl aus. Shell räumte im Jahr 2011 seine Verantwortung ein.

Auch der Bericht der UNO-Entwicklungsbehörde UNDP von 2010 kam zu dem Schluss, dass Shell einer der Verursacher der Ölpest sei. Das niederländisch-britische Unternehmen habe Probleme in der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit geschaffen, weil verabsäumte wurde, Kontroll- und Wartungsmechanismen zu implementieren, so das Urteil der UNO-Institution. Nach massiven Bürgerprotesten im Jahr 1993 zog sich der britisch-niederländische Konzern zwar von der aktiven Ölförderung im Ogoni-Land zurück, bis heute kontrolliert er aber über eine Tochtergesellschaft den Großteil der rund 7.000 Kilometer langen Leitungen in der Region.

Dramatische Auswirkungen auf Gesundheit

UNDP kritisierte aber in dem Bericht von 2010 auch die staatliche nigerianische Ölgesellschaft Nigerian National Petroleum Corporation (NNPC) wegen schwerer Versäumnisse bei der Instandhaltung der bereits seit Mitte der 1950er Jahre existierenden Leitungen. Die Auswirkungen des ausgelaufenen Öls auf die Gesundheit der Bevölkerung, die Luft, den Boden und das Wasser sind jedenfalls verheerend. Die krebserregenden Bestandteile des „schwarzen Goldes“ verseuchen nicht nur den Fischfang - und damit die Lebensgrundlage vieler -, sondern auch das Grundwasser, wie UNDP herausfand.

Im Trinkwasser eines Ortes überstiegen die Werte für den krebserregenden Stoff Benzol den von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgelegten Grenzwert um das 900-Fache. Anderswo fanden die Wissenschaftler eine acht Zentimeter dicke Ölschicht auf dem Grundwasser schwimmen.

Sanierung wird Jahrzehnte dauern

In dem Erdölfördergebiet im Süden Nigerias leben rund 30 Millionen Menschen. Ihre Lebenserwartung sank auf 40 bis 45 Jahre, im Rest des westafrikanischen Landes liegt sie bei knapp über 50 Jahren. Die „Sanierung“ der Region würde laut UNDP zunächst rund eine Milliarde Dollar kosten und 25 bis 30 Jahre dauern. Der Bericht - der bisher detaillierteste über die ölreiche Region Niger-Delata - wurde teilweise durch Shell selbst finanziert und auf Ansuchen der nigerianischen Regierung durchgeführt.

Öleinnahmen Hauptfinanzquelle

Die Regierung selbst ist massiv von den Einnahmen durch Ölexporte abhängig. Diese machen etwa 90 Prozent des Staatshaushaltes in Nigeria aus, die breite Bevölkerung profitiert davon jedoch nicht. Viele Nigerianer richten deshalb ihre Wut gegen Ölmultis wie Shell, Exxon, Total und Chevron. Nicht selten wurden deren Mitarbeiter entführt. Shell beschloss deshalb, seine Mitarbeiter aus gefährdeten Gebieten abzuziehen. Oftmals sind aber auch Familienangehörige wohlhabender Nigerianer Opfer von Attentaten.

Schauprozess gegen Ken Saro-Wiwa

Hintergrund der Auseinandersetzungen ist ein jahrzehntealter Streit zwischen Ölfirmen und Gemeinden im Niger-Delta um die Verteilung des Ölreichtums. Vor allem der Widerstand von Angehörigen des Ogoni-Volkes gegen die Zerstörung ihrer Heimat erhielt große Aufmerksamkeit: Die Protestbewegung demonstrierte in den 90er Jahren gewaltfrei gegen die Ölmultis.

1993 zwang die vom Schriftsteller und Umweltaktivisten Ken Saro-Wiwa geführte Bewegung „Vereinigung für das Überleben des Ogoni-Volkes“ (MOSOP) Shell dazu, seine Ölförderanlagen im Ogoni-Land aufzugeben. Das damalige Militärregime verurteilte Saro-Wiwa, Träger des österreichischen Bruno-Kreisky-Menschenrechtspreises, und acht seiner Mitstreiter in einem Schauprozess wegen Mordes zum Tode und ließ in 1995 hinrichten.

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