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Entschleunigung statt Action und Drama

Australien hält den Geschwindigkeitsweltrekord in der manuellen Produktion eines Pullovers - vom Scheren eines Schafs bis zum fertigen Kleidungsstück in nur fünf Stunden und 41 Minuten. In Norwegen, der Hochburg der gestrickten Masche, will man das so nicht stehen lassen. Am 1. November soll der Rekord geschlagen werden, und das ganze Land kann via Liveübertragung im TV in Echtzeit dabei sein.

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Die Vorbereitungen für das Fernsehevent laufen auf Hochtouren. Der öffentlich-rechtliche Sender Norsk Rikskringkasting (NRK) zeigt die Show im Hauptabendprogramm und hat bereits acht Norweger ausgewählt, die an der Pulloverproduktion beteiligt sein sollen. „Wir haben bereits ein Lamm am Ohr markiert, das geschoren wird, und das Rekordteam zusammengestellt“, erklärte die NRK-Produzentin Lise-May Spissöy. „Acht Personen werden beteiligt sein: Einer schert, während die anderen sieben spinnen und stricken so schnell sie können.“

Schafschur

Fotolia/ericroger

Das Schaf, mit dessen Wolle der Pullover gestrickt werden soll, wurde bereits ausgewählt

„Es wird die ganze Zeit fast nur der Strickvorgang zu sehen sein“, beschreibt NRK-Journalist Kristian die geplante Show. „Aber zwischendurch werden auch vorproduzierte Einspieler gezeigt, etwa Interviews.“ Im Unterschied zu anderen Rekord-TV-Formaten, wie etwa der niederländischen Endemol-Erfindung „Domino Day“ wird auf Showeinlagen und einen künstlichen Spannungsbogen völlig verzichtet, im Mittelpunkt soll tatsächlich die handwerkliche Arbeit stehen.

Mehrjährige Tradition im NRK

Der NRK hat mit entschleunigten TV-Formaten schon einige Erfahrung. Seit mehreren Jahren experimentieren die norwegischen Fernsehmacher mit „Slow TV“-Konzepten. Anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der Bergen-Bahn strahlte der Sender die komplette Reise von Bergen bis Oslo, die oft als die schönste Bahnstrecke der Welt bezeichnet wird, in Echtzeit aus - sieben Stunden und 16 Minuten lang.

Vier am Zug montierte Kameras filmten dabei die Fahrt durch die Landschaft, eine „Orgie an Naturschönheit“ wie es in der Sendungsbeschreibung hieß. Unterbrechungen gab es nur während der Tunnelpassagen, die dafür genutzt wurden um historisches Material zu zeigen und Interviews mit Passagieren und Bahnmitarbeitern einzuspielen. Die Sendung erwies sich als Überraschungshit - mehr als 1,2 Mio. Norweger verfolgten das Programm zumindest zeitweise, 172.000 blieben vom Start bis zum Ziel dabei.

2011 entschloss man sich, das Konzept aufs Wasser zu verlegen und mit der Hurtigruten zu wiederholen. Die traditionelle Postschifflinie verbindet seit dem späten 19. Jahrhundert die Orte der über 2.700 Kilometer langen norwegischen Westküste von Bergen bis Kirkenes. Weil die Fahrt mit über 134 Stunden aber selbst das ambitionierteste „Slow TV“-Publikum überfordert hätte, entschied man sich damals, die Sendung im Internet zu übertragen und nur Auszüge im Fernsehen zu bringen. Via Livestream hatten damals auch Fans aus aller Welt die Möglichkeit, die Fahrt zu verfolgen.

Hacken, Trocknen, Stapeln und Verbrennen

Nach den Reisedokumentationen ging der NRK noch einen Schritt weiter in der Entschleunigung und teste die Limits des „Slow TV“-Konzepts. Für die „Nationale Holzfeuernacht“ wurde der Sender mit Traumquoten belohnt - dabei war über acht Stunden hinweg kaum etwas anderes zu sehen als ein prasselndes Kaminfeuer unterbrochen von Interviews und Diskussionen zu den Themen Feuer und Holz - vom richtigen Hacken, Trocknen, Stapeln bis zum Verbrennen.

Die hohen Zuschauerzahlen der „Slow TV“-Ereignisse waren vermutlich auch der Auslöser für den privaten Sender VGTV, ein derartiges Format zu testen und gleichzeitig einen Weltrekord aufzustellen. Mit einer Zeit von genau 30 Stunden führte der Journalist Mads Andersen das längste durchgehende Einzelinterview mit Hans Olav Lahlum, einem Schriftsteller, Historiker, Politiker und Schachspieler.

Heftige Debatte über Faszination „Slow TV“

Aber worin liegt die Faszination des norwegischen „Slow TV“? Beobachter von ausländischen Fernsehstationen und Zuschauer auf Twitter und Facebook debattieren diese Frage schon seit Beginn des Trends - und stellen meist selbst überrascht fest, wie sehr sie selbst von den Echtzeitübertragungen gefesselt sind. „Es ist das Gegenteil von fast allen anderen Fernsehsendungen - deshalb hebt es sich hervor, und das ist auch der Grund, warum so viele Menschen zuschalten,“ erklärte der Projektverantwortliche der Hurtigruten-Sendung gegenüber Reuters.

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