Aufschwung kann Folgen nicht stoppen
Das internationale Rote Kreuz geht mit der europäischen Sparpolitik der vergangenen Jahre als Antwort auf die Wirtschaftskrise hart ins Gericht. In einem am Donnerstag veröffentlichen Bericht zeichnet die Organisation ein düsteres Bild für Europas Zukunft. „Wir fragen uns, ob wir als Kontinent wirklich verstanden haben, was uns passiert ist“, heißt es darin.
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Andere Kontinente hätten es geschafft, Armut zu reduzieren, in Europa sei das Gegenteil der Fall, heißt es in dem 68-seitigen Report „Think differently: Humanitarian impacts of the economic crisis in Europe“ der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften (IFRC). Insgesamt können sich demnach 43 Millionen Menschen in Europa nicht genug zu essen leisten. An der Erhebung nahmen 42 Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften aus Europa und Zentralasien teil.
Lange Liste an Problemen
Die langfristigen Konsequenzen der Krise seien jetzt noch gar nicht sichtbar. Die verursachten Probleme werden wohl für Jahrzehnte zu spüren sein, auch dann noch, wenn sich die Wirtschaft wieder erholt hat, heißt es weiter.
Die Liste der Probleme ist lang: Massenarbeitslosigkeit, vor allem in der jungen Bevölkerung, 120 Millionen Europäer unter oder an der Schwelle zur Armutsgrenze, steigende Fremdenfeindlichkeit angesichts von Migrationsbewegungen, ein gesteigertes Risiko für soziale Unruhen und politische Instabilität und wachsende Unsicherheit in der traditionellen Mittelschicht. All das werde die Zukunft Europas unsicher werden lassen.
Nicht bei Sozialleistungen sparen
Die Zahl jener, die auf Nahrungsmittelhilfe des Roten Kreuzes angewiesen sind, sei von 2009 bis 2012 um 75 Prozent gestiegen. In Lettland versorgt das Rote Kreuz mittlerweile 140.000 Menschen mit Nahrungsmitteln – und das, obwohl das Land die Krise den Wirtschaftsindikatoren nach bereits überwunden hat.
„Europa ist mit der schlimmsten humanitären Krise seit sechs Jahrzehnten konfrontiert“, sagte IFRC-Generalsekretär Bekele Geleta. Man verstehe natürlich die Notwendigkeit der Regierungen zu sparen, so Geleta. Er gab aber den dringenden Rat, Einschnitte bei Gesundheits- und Sozialleistungen zu vermeiden. Andernfalls würden die Kosten langfristig nur steigen.
Auch reiche Länder betroffen
Betroffen seien insgesamt nicht nur die klassischen Krisenländer in Südeuropa, sondern auch Vorzeigenationen wie Deutschland. Ein Viertel aller Jobs dort sei Niedriglohnarbeit. Zwar habe es Deutschland geschafft, die Arbeitslosigkeit im Griff zu haben, der Preis ist aber hoch. Die Hälfte aller seit 2008 geschaffenen Jobs sind schlecht bezahlt und zumeist nur Teilzeit mit wenig sozialer Absicherung. 600.000 arbeitende Deutsche könnten von ihrem Einkommen nicht leben.
Das Rote Kreuz zitiert auch eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, wonach im vergangenen Jahrzehnt 5,5 Millionen Deutsche aus der Mittelschicht fielen. In die Oberschicht stiegen im selben Zeitraum 500.000 auf. In anderen reichen Ländern wie Dänemark und Luxemburg seien ähnliche Entwicklungen zu beobachten. In Frankreich fielen seit 2009 350.000 Menschen unter die Armutsgrenze.
Gesellschaftliche Folgen
Der Bericht betont auch die psychischen und gesellschaftlichen Folgen der Krise. Die Unsicherheit löse bei Millionen Europäern Resignation und Hoffnungslosigkeit aus. Bemerkt wird ein Anstieg beim Bedarf an psychosozialer Unterstützung für Menschen, die an Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen leiden. Gleichzeitig wird aber bei den Staatsausgaben für Gesundheit stark gespart. Die Suizidrate von Frauen in Griechenland habe sich verdoppelt.
Mit der Jugendarbeitslosigkeit würden viele Junge zurück zu ihren Eltern ziehen, in Haushalte, die von einem Verdiener erhalten werden. Doch auch die Gruppe der 50- bis 64-Jährigen sei stark von Jobverlust betroffen. 2008 waren es 2,8 Millionen, 2012 bereits 4,6 Millionen innerhalb der EU. In der Krise scheint das Niveau der Solidarität innerhalb der Gesellschaft deutlich zu sinken, berichtet das Österreichische Rote Kreuz in dem Report.
Kluft zwischen Arm und Reich wächst
Ebenfalls am Donnerstag veröffentlichte die Caritas einen Bericht, wonach die Kluft zwischen Arm und Reich in Spanien immer größer wird. Seit Beginn der Wirtschaftskrise 2008 habe sich die Zahl der extrem armen Menschen verdoppelt, hieß es darin. Mehr als sechs Prozent der spanischen Bevölkerung, etwa drei Millionen Menschen, müssten mit 307 Euro oder weniger im Monat auskommen. In keinem anderen Land Europas gehe die Schere zwischen Wohlstand und Armut so weit auseinander wie in Spanien.
Wie die Schweizer Großbank Credit Suisse am Mittwoch in einer Studie schrieb, ist die Zahl der Dollar-Millionäre in dem Land allein 2012 um 13 Prozent auf 402.000 gestiegen. Weltweit hat sich das Privatvermögen seit dem Jahr 2000 auf 241 Billionen Dollar (rund 177,5 Billionen Euro) verdoppelt. Der Zuwachs von Mitte 2012 bis Mitte 2013 habe 4,9 Prozent betragen. Die Zahl der Millionäre wuchs vor allem in Deutschland, den USA und Frankreich. Allerdings sind die Vermögen sehr ungleichmäßig verteilt: Ein Prozent der Bevölkerung besitzt fast die Hälfte der Vermögen. Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung kommt auf lediglich ein Prozent des Gesamtwertes.
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