Politisch geschürter Glaubenskonflikt
Es ist eine verheerende Bilanz, die UNO und NGOs Monat für Monat hinsichtlich der Lage im Irak ziehen. Verheerende Bombenanschläge, teilweise gleichzeitig an verschiedenen Orten, Selbstmordattentate, Schießereien und Entführungen prägen das Geschehen. Seit dem Abzug der US-Truppen verschärfte sich die Lage zunehmend - Sicherheitskräfte und Politik bleiben zunehmend in der Beobachterrolle.
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Regelmäßig kommen aus dem Irak neue Zahlen, veröffentlicht durch die UNO oder durch Institutionen wie die Londoner NGO Iraq Body Count, eine Internetplattform, die Tote zählt. Alle Statistiken, die aufgrund der sich teilweise überschlagenden Ereignisse unterschiedliche Zahlen ausweisen, kommen in einem überein: dem drastischen Anstieg der Gewalt. Zuletzt sprach die UNO gar von fast 1.000 Toten innerhalb eines Monats.
Zunehmend belebte Orte als Gewaltschauplätze
Schauplätze von Anschlägen sind in zunehmendem Maße Orte, an denen sich viele Menschen aufhalten, das lässt die Opferzahlen besonders dramatisch steigen. „Im September gab es eine Zunahme von Bombenangriffen auf belebte Orte mit sehr vielen Opfern“, sagte John Drake von dem auf Risikoanalyse spezialisierten Unternehmen AKE. Zugenommen hätten auch Angriffe mit Schusswaffen, bei denen systematisch ganze Familien ausgelöscht würden.

Reuters/Qahtan al-Sudani
In letzter Zeit mehren sich Autobombenanschläge
Die jüngsten Zahlen schüren die Sorge, dass der Irak erneut in konfessionell motivierter Gewalt versinkt, wie es in den Jahren 2006 und 2007 der Fall war. Damals wurden Zehntausende Menschen bei Anschlägen und Kämpfen zwischen schiitischen und sunnitischen Milizen getötet. Und genau dieser Konflikt stellt das ursächliche Problem dar. Sowohl durch den Bürgerkrieg im benachbarten Syrien als auch durch den Streit zwischen den sunnitischen Parteien und dem schiitischen Regierungschef Nuri al-Maliki erhält der Konflikt ständig neue Nahrung. Denn angesichts der Politik des Ministerpräsidenten und seiner mit Schiiten besetzten Regierung fühlt sich die sunnitische Bevölkerungsminderheit an den Rand gedrängt.
Malikis Alleinherrschaftsanspruch
Nach dem Abzug der USA Ende 2011 hatte diese Klientelpolitik dramatische Folgen. Gewaltakte, die aufgrund der Besatzung noch verhindert bzw. eingedämmt werden konnten, nahmen signifikant zu. Experten meinen, es fehle an der notwendigen Politik des Interessenausgleichs zwischen den Gruppen, das Problem bestehe im Streben Malikis nach der Alleinherrschaft. Für Maliki handelt es sich bei Sunniten um Todfeinde, die an den Rand gedrängt bzw. militärisch bekämpft werden müssten.
Viele sunnitische Muslime, die unter dem Regime des gestürzten Diktators Saddam Hussein zur Machtelite gehörten, fühlen sich nun zu Feinden der Regierung diffamiert. Das äußert sich seitens der Regierung freilich nicht in Gewalt, sondern in feindlicher Politik. So ist Maliki seit seiner Machtübernahme 2006 nicht bereit, die Macht mit den Sunniten zu teilen. Ganz im Gegenteil: Nach den ersten freien Wahlen 2010 begann er, an der Errichtung eines autoritären Systems zu arbeiten. So entzog Maliki mehreren TV-Stationen, die kritisch berichteten, die Lizenz. Zudem installierte er in den oberen Rängen des Militärs und der Geheimdienste fast ausschließlich Schiiten.

AP/Saurabh Das
Seit 2006 ist Maliki an der Macht, seither verfolgt er einen zunehmend autoritären Kurs
Vorgehen gegen Oppositionelle
Als nächsten Akt ging Maliki gegen den damaligen irakischen Vizepräsidenten Tariq al-Haschimi vor, er wurde im Dezember 2011 - zum Zeitpunkt, als der US-Abzug fast vollzogen war - wegen Terrorismus angeklagt. Dieser machte hierfür unter Folter erzwungene Aussagen seiner Leibwächter verantwortlich. Er warf Maliki, der mittlerweile als Premierminister, Innenminister, Oberkommandierender der Armee, Chef des Nationalen Sicherheitsrates, Verteidigungsminister und Chef der Geheimdienste fungierte, eine Machtanhäufung und Unfähigkeit, mit Kritik und politischer Opposition angemessen umzugehen, vor. Heuer folgte der Haftbefehl gegen den populären Finanzminister Rafi al-Isawi, der wie Haschimi Sunnit ist.
Al-Kaida nutzt Spannungen
All diese Maßnahmen verstärkten zunehmend das Gefühl vieler Sunniten, Iraker zweiter Klasse zu sein. Unruhe und Protest nahmen zu. Vor allem entlang der syrischen Grenze kam und kommt es zu Verhaftungen und Vertreibungen sunnitischer Familien. In diese Querelen platzen Extremistengruppen mit Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Kaida, sie nutzen die angespannte Lage, um Kämpfer im Irak zu rekrutieren und systematisch Anschläge zu verüben. Anfang des Jahres gründeten der irakische und der syrische Flügel der Al-Kaida den „Islamischen Staat Irak und der Levante“, der sich seitdem zu zahlreichen Anschlägen in beiden Staaten bekannte.
Terror erreichte Erbil
Zuletzt erreichte die Terrorwelle auch die bisher verschonte kurdische Autonomieregion im Nordirak. Nach Polizeiangaben explodierten Ende September mehrere Autobomben vor Gebäuden der Sicherheitsbehörden in der Stadt Erbil. Mindestens sechs Menschen kamen demnach ums Leben, 40 weitere wurden verletzt. In der Stadt wurden die Sicherheitsmaßnahmen verschärft. Im Kurdengebiet war es seit dem Sturz von Machthaber Hussein im Jahr 2003 per US-geführter Invasion im Vergleich zum Rest des Landes friedlich.

APA/EPA
Nach Jahren der trügerischen Ruhe: Anschlag in Erbil Ende September
Russisches Know-how?
Unterdessen will der Irak offenbar Russland ersuchen, dessen beim Kampf gegen den Terrorismus und bewaffnete extremistische Gruppierungen gesammelten Erfahrungen zu teilen. „Die irakische Regierung strebt eine Kooperation mit Russland im Kampf gegen den Terror an und möchte die erfolgreichen russischen Erfahrungen bei der Bekämpfung bewaffneter extremistischer Gruppierungen in Tschetschenien und in Afghanistan übernehmen“, sagte Mohamed al-Akili, Abgeordneter des Regierungsblocks im irakischen Parlament.
Zuletzt beschloss das irakische Kabinett, Sicherheitskräften in besonderen Risikogebieten wie Bagdad vorübergehend eine Gefahrenzulage zu zahlen. Polizisten und Soldaten sollen demnach 50 Prozent mehr Lohn bekommen - ein monatlicher Anstieg um bis zu 500.000 Dinar (rund 314 Euro).
Weitestgehende Ratlosigkeit
Die Ratlosigkeit, wie man der neuen Welle der Gewalt Herr werden könne, zeigte sich zuletzt auch am Kommentar des UNO-Gesandten im Irak, Nikolai Mladenow: „Politische, religiöse und zivile Führer müssen gemeinsam mit den Sicherheitskräften daran arbeiten, das Blutvergießen zu stoppen und dafür zu sorgen, dass sich alle irakischen Bürger gleichermaßen geschützt fühlen.“ Das klingt freilich schlüssig, die Komplexität des Problems ist damit aber kaum ergründet.
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