Lange Karriere als scharfzüngiger Kritiker
Marcel Reich-Ranicki ist tot. Mit dem gebürtigen Polen ist einer der profiliertesten Literaturkritiker im deutschsprachigen Raum mit 93 Jahren für immer verstummt, wie Frank Schirrmacher, Koherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“), via Twitter vermeldete: „Wir trauern alle. Noch vor 2 Stunden habe ich ihn besucht.“ Im März hatte Reich-Ranicki bekanntgegeben, an Krebs erkrankt zu sein.
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Reich-Ranicki wurde am 2. Juni 1920 in Wloclawek an der Weichsel geboren. Sein Vater David war Kaufmann, ein polnischer Jude, seine Mutter Helene deutsche Jüdin. Nach dem Konkurs des väterlichen Betriebs siedelte die Familie 1929 nach Berlin um. 1938 wurde Reich-Ranicki wegen seiner jüdischen Herkunft nach kurzer Abschiebehaft nach Polen ausgewiesen. Im Warschauer Ghetto gelang ihm 1943 mit seiner Frau Tosia die Flucht. Beide überlebten im Untergrund. Eltern und Schwiegereltern kamen in den Vernichtungslagern um.

APA/dpa/Steffen Kugler
Marcel Reich-Ranicki nahm sich nie ein Blatt vor den Mund
Über seine Tätigkeit in Polens kommunistischem Geheimdienst und im diplomatischen Dienst kehrte Reich-Ranicki 1949 zurück nach Warschau. 1950 wurde er aus seinen Ämtern entlassen und aus der kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei wegen „ideologischer Fremdheit“ ausgeschlossen.
Karrierestart als Kritiker bei der „Zeit“
Schon lange ein Liebhaber deutscher Literatur, begann er, als Lektor und freier Schriftsteller zu arbeiten. 1958 kam er für immer nach Deutschland und machte sich als scharfzüngiger Kritiker bei der „Zeit“ in Hamburg einen Namen. Von 1973 bis 1988 leitete er die Literaturredaktion der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.
Das große Publikum fand der „Literaturpapst“ aber erst 1988, als das „Literarische Quartett“ in ZDF und ORF startete. Von 1988 bis 2001 wurden unter der Moderation von Reich-Ranicki rund 400 Bücher besprochen und oft zu Bestsellern gemacht. Legendär wurden seine öffentlichen Kontroversen mit prominenten Schriftstellern wie Günter Grass und Martin Walser.
In Österreich gehörte Reich-Ranicki zu den ersten Unterstützern des 1977 in Kärnten ins Leben gerufenen Ingeborg-Bachmann-Preises. „Aber was hat denn nun eigentlich im Juni 1977 in Klagenfurt stattgefunden? Ein Fest der Literatur? Ein Wettbewerb mit zwei Preisen und einem Stipendium? Ein Dichtermarkt? Eine Art Börse? Wirklich eine Arbeitstagung? Oder gar eine literarische Modenschau? Es war, glaube ich, alles auf einmal - und das ist gut so“, urteilte Reich-Ranicki über den ersten Lesewettbewerb milde.
Emotionale Debatte über Literaturkritik
1995 ließ Reich-Ranicki in einem Verriss im „Spiegel“ und im Fernsehen kein gutes Haar an Grass’ neuem Buch „Ein weites Feld“. Damit trat er eine sehr emotionale Debatte über die Frage los, wie weit Literaturkritik gehen darf. Walser, den mit Reich-Ranicki eine in der Öffentlichkeit heftig ausgelebte Abneigung verband, veröffentlichte 2002 einen Roman unter dem Titel „Tod eines Kritikers“ (2002). Schirrmacher wertete das als Abrechnung mit dem Literaturbetrieb gedachte Buch als „Exekution“ Reich-Ranickis.
Trotz der Vorwürfe, das Buch bediene antisemitische Klischees, veröffentlichte der Suhrkamp Verlag den Roman. Eine Aussöhnung mit Walser kam nie zustande. Reich-Ranicki hatte an seinem 90. Geburtstag nochmals auf einer Entschuldigung des Schriftstellers bestanden.
Nach einer Sondersendung des „Quartetts“ Anfang 2006 zum 150. Todestag von Heinrich Heine, dem Lieblingsautor von Reich-Ranicki, wurde dieser mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert. Kurz danach gab der Kritiker seinen endgültigen Abschied vom „Quartett“ bekannt. Trotzdem gab er bis zu seinem Tod in der Literaturszene die Richtung vor. Er schrieb noch regelmäßig für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ und wurde für seine Arbeit mit zahlreichen Preisen und Ehrendoktorwürden geehrt.
Letzter Auftritt bei Holocaust-Gedenkstunde
Am 27. Jänner 2012 hatte Marcel Reich-Ranicki seinen letzten großen öffentlichen Auftritt: Er sprach bei der Holocaust-Gedenkstunde im Deutschen Bundestag. Der deutsche Bundespräsident Christian Wulff und Bundestagspräsident Norbert Lammert führten den schon damals gesundheitlich sichtlich angeschlagenen Literaturkritiker in den Plenarsaal.
Nicht als Historiker, sondern als unmittelbarer Zeitzeuge und als Überlebender des Warschauer Ghettos berichtete der damals 91-Jährige, wie er im Juli 1942 den Auftakt der Deportation der Warschauer Juden in die Todesmaschinerie der Nazis und ihrer Vernichtungslager erlebte. Bewegt, zum Teil schwer verständlich, berichtete er vom Abtransport der Juden aus dem Warschauer Ghetto nach Treblinka. „Was die ‚Umsiedlung‘ der Juden genannt wurde (...), hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck - den Tod.“
Vor seinem Auftritt im Bundestag hatte Reich-Ranicki der Zeitung „Jüdische Allgemeine“ berichtet, er sehe der Rede mit gemischten Gefühlen entgegen. Er wisse nicht, ob er der Aufgabe gewachsen sei, noch einmal darüber zu sprechen. Es vergehe kein Tag, an dem er nicht an das Ghetto denken müsse. „So etwas vergisst kein Mensch.“ Nach der Rede herrschte im Bundestag minutenlange Stille.
Zahlreiche Würdigungen
Zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik und Kultur reagierten bestürzt auf die Nachricht vom Tod Reich-Ranickis. Er wurde als „ganz Großer der Literaturkritik“ und „eine der prägendsten Persönlichkeiten der deustchen Nachkriegsgeschichte“ gewürdigt. Der 93-Jährige sei ein „brillanter Literaturvermittler“ gewesen, sein Tod sei „ein trauriger Verlust“.
Das ZDF würdigte Reich-Ranicki als unverwechselbaren und authentischen „Herrn der Bücher“: „Marcel Reich-Ranicki konnte polarisieren wie wenige andere. Seinem Motto ‚Die Deutlichkeit ist die Höflichkeit der Kritiker‘ ist er immer treu geblieben.“ Von der Deutschen Verlags-Anstalt (DVA) hieß es aus München, diese verliere „einen ihrer herausragendsten Autoren. Wichtiger noch: Die Welt der Literatur verliert den bedeutendsten und einflussreichsten Kritiker und Vermittler von Literatur nach 1945.“
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