Musil und der Ordnungsfanatiker
Es war der 100. Geburtstag von Robert Musil, man schrieb das Jahr 1980, da rächte sich im „Spiegel“ jemand dafür, dass Robert Musil Thomas Manns „Buddenbrooks“ als „langweilig“ empfunden hatte und den „Zauberberg“ gar als „geistig öde“. Der Rächer war niemand Geringerer als „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki selbst - seines Zeichens höchster Apologet der Werke Thomas Manns.
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Obgleich Reich-Ranicki Musil mit dem „Törleß“ in den „Kanon der deutschen Literatur“ aufnahm, musste er doch Mann späte Genugtuung zukommen lassen. Musil sei ja nicht unbegabt, meinte Reich-Ranicki, doch dessen teilweise „pathologische Mentalität“ sei dem Schriftsteller im Wege gestanden, sein beachtliches Talent sinnvoll zu verwalten.
„Ein ganz gescheiterter Mann“
Musils „Unfähigkeit, die Möglichkeiten und die Grenzen seines Talents zu erkennen und daraus die praktischen Konsequenzen zu ziehen, die Unfähigkeit also, das, was er gewollt und geplant hat, auch zu verwirklichen“, sei schuld daran, dass dieser „völlig zu Unrecht in Ansehen stehende Schriftsteller ein ganz und gar gescheiterter Mann“ gewesen sei.
Reich-Ranickis Vorschlag zum Hauptwerk Musils: den „Mann ohne Eigenschaften“ auf das „literarisch Wertvolle“ reduzieren, sprich eine Kurzfassung davon schreiben. Da nun Thomas Mann 1980 auch nicht mehr zu den Lebenden zählte, wollte sich niemand finden, der den „Mann ohne Eigenschaften“ und gut 1.500 eigenschaftslose Seiten zu einem eigenschaftsvollen Werk zusammenschrieb.
„Literarische Geschwätzigkeit“
So hob Reich-Ranicki seinen „Spiegel“-Essay über Musil auf und veröffentlichte ihn in seiner Aufsatzsammlung „Sieben Wegbereiter: Schriftsteller des 20. Jahrhunderts“ (DVA). Seither lässt sich schwarz auf weiß nachlesen, dass Reich-Ranicki im „Mann ohne Eigenschaften“ nichts als „literarische Geschwätzigkeit“ erkennen kann.
Was Reich-Ranicki am „Mann ohne Eigenschaften“ fehlte, war „eine vernünftige, eine sinnvolle Reihenfolge der einzelnen Bestandteile“. Der Roman sei „nicht mehr als ein Sammelsurium, ein chaotisches Werk“, es sei „misslungen, eine Prosa ohne Charme und Aura, ohne Poesie“. Letztlich, so der Kritiker, sei der „Mann ohne Eigenschaften“ ein „extremer und eklatanter Missbrauch der Romanform“.
Abrechnung mit einem „missliebigen“ Autor
Dass viele Vorwürfe Reich-Ranickis vor allem Abrechnungen mit einem „missliebigen“ Autor waren, meinte der Salzburger Germanist Norbert Christian Wolf, der in seiner großangelegten Musil-Studie am Beispiel der Kritiken Reich-Ranickis zeigte, wie schwer es sein kann, sich mit sehr konventionellen Anschauungen von Literatur einem Werk der Moderne zu nähern. Reich-Ranicki sei bei seiner Musil-Lektüre, so Wolf, als Vertreter einer realistischen Maxime von Literatur erschienen, die „das Gemachtsein der Kunst zum Verschwinden bringen“ wolle.
Viele Vorwürfe Reich-Ranickis gegen Musil gingen ins Leere, etwa wenn der „Literaturpapst“ verlangte, Musil hätte im Roman die zitierten Quellen nennen müssen. „Unter solchen Auspizien müsste Reich-Ranicki genauso den von ihm verehrten Thomas Mann als Plagiator diskreditieren“, schrieb Wolf vergangenes Jahr.
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