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Längst nicht alle Risiken beseitigt

Mit dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 ist nicht nur der Funke der Krise endgültig von den USA auf Europa, sondern zunehmend von der Finanz- auf die Realwirtschaft übergesprungen. Am Ende standen ganze Volkswirtschaften und beinahe die europäische Währungsunion am Rande des Abgrunds. Die Folgen sind auch nach fünf Jahren noch nicht zur Gänze beseitigt.

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Lehman Brothers, damals die viertgrößte Investmentbank der USA, hatte infolge der „Subprime“-Immobilienkrise ab Sommer 2007 Milliardenverluste geschrieben. Nach zwei Kapitalerhöhungen gab die Bank am 10. September 2008 erneut einen Quartalsverlust von fast vier Mrd. Dollar (knapp drei Mrd. Euro) bekannt.

Die US-Regierung sprang jedoch nicht - wie zuvor bei den angeschlagenen Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddy Mac - erneut mit Steuermilliarden ein, sondern ließ die Bank unter dem damaligen US-Finanzminister Henry Paulson fallen. Ein Verkauf scheiterte, am 15. September musste die 1850 gegründete Traditionsbank Insolvenz anmelden.

Richard Fuld, ehemaliger Vorsitzender von Lehman Brothers

Reuters/Jonathan Ernst

Nach den geplatzten Verkaufsplänen holte sich Lehman-Vorstandschef Richard Fuld im September 2008 bei der US-Regierung eine Abfuhr: Es gab kein Steuergeld für die Rettung der Investmentbank

„Too big to fail“ und die Folgen

Danach zeigte sich, was unter dem in der Krise vielfach zitierten Schlagwort „too big to fail“ („systemrelevant“) zu verstehen ist. Auch der oft gezogene Vergleich Finanz-„Tsunami“ war nicht ganz unzutreffend. Die Pleite löste ein Welle aus, die sich immer weiter bis zur Katastrophe aufschaukelte: Aktienkurse und Rohstoffpreise brachen ein, weltweit mussten Banken Milliarden abschreiben und gerieten ins Wanken. Die Panik nach der Lehman-Insolvenz „pulverisierte die Bilanzen der Institute, die in ausufernde Devisengeschäfte und undurchsichtige Pakete aus Immobilienkrediten investiert hatten“, hieß es dazu kürzlich im deutschen „Handelsblatt“.

Von der Banken- zur Staatskrise

Erstes staatliches Opfer wurde danach Island. Die drei größten Banken des Landes mussten, nachdem sie in Schieflage geraten waren, verstaatlicht werden. Ihr Schuldenberg überstieg ein Mehrfaches des Bruttoinlandsprodukts (BIP) des Landes. Rund ein Jahr später folgte der nächste Schock: Griechenland räumte ein, seine tatsächlichen Staatsschulden und sein Haushaltsdefizit (2009 über zwölf Prozent des BIP) vor der EU verschwiegen zu haben.

Folge war eine Staatsschuldenkrise, im April 2010 mussten die EU und der Internationale Währungsfonds (IWF) mit Notkrediten von 20 Mrd. Euro in einer ersten Tranche zur Abwendung eines Staatsbankrotts einspringen. Mit Irland, Spanien, Italien und Portugal gerieten weitere Euro-Staaten durch die schwache Konjunktur und parallel dazu steigende Staatsschulden und Refinanzierungskosten zunehmend in Schwierigkeiten.

„Rettungsschirme“ für den Euro

Endergebnis war die Euro-Krise als Teufelskreis aus Banken-, Staatsschulden- und Wirtschaftskrise: Der Einbruch der Konjunktur führte zu vermehrten Insolvenzen und damit Kreditausfällen, die Bankenkrise zu einer Kreditklemme für Unternehmen, die Rezession zu verminderten Steuereinnahmen, diese zu steigenden Haushaltsdefiziten, die wiederum zu Spardruck, der nur begrenzt Spielraum für Konjunkturmaßnahmen lässt.

Als Gegenmaßnahmen machten die Zentralbanken astronomische Summen locker, um den Geldkreislauf im Fluss zu halten. Die EU spannte nach langem politischen Tauziehen um die Lastenverteilung zwei „Rettungsschirme“ zur Stabilisierung der Währungsunion auf: zuerst die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und später den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), ausgestattet vorerst mit einem Volumen von rund 700 Mrd. Euro.

Haushaltssanierung und Risikovorsorge

Mittlerweile hat sich die Konjunkturlage etwas gebessert, die Euro-Zone hat sich laut jüngster Einschätzung der EU-Statistikbehörde Eurostat mit dem zweiten Quartal 2012 aus der Rezession gekämpft. In Ländern wie Griechenland und Spanien, die zusätzlich noch mit Arbeitslosenraten jenseits der 25-Prozent-Marke kämpfen, ist von Entwarnung allerdings noch keine Rede. Athen dürfte im kommenden Jahr ein drittes Hilfspaket erhalten.

Die Sanierung der Staatshaushalte ist eine Großbaustelle, auf der es noch genügend zu tun gibt, das Ausschalten von Risikofaktoren, die als Auslöser der Krise gelten, eine andere. Rufe nach „Zähmung“ eines von der Realwirtschaft „abgehobenen“ Finanzsektors und stärkerer Reglementierung wurden nicht erst gestern laut.

Tauziehen um strengere Finanzmarktregelungen

Eine wesentliche Maßnahme, das Risiko von Bankenkrisen künftig zu senken, sind strengere Eigenkapitalvorschriften unter dem internationalen Abkommen „Basel III“. Ein dickerer Eigenkapitalpolster soll die Institute krisenresistenter machen und verhindern helfen, dass wie mehrfach in den letzten Jahren erneut der Steuerzahler für Verluste geradestehen muss. Außerdem zieht Basel III eine Art Verschuldungsgrenze ein.

Die EU bastelt zudem an dem Großprojekt Bankenunion. Ziel ist hier, bei der Europäischen Zentralbank (EZB) eine zentrale Bankenaufsicht zu installieren, die „faulen“ Krediten und drohenden Zahlungsschwierigkeiten rascher als bisher auf die Spur kommen soll. Beschlossene Sache ist die Bankenunion in vollem Umfang allerdings noch nicht.

Ein „Testament“ für Großbanken

Außerdem beauftragten die Regulierungsbehörden in den USA und in Europa „systemrelevante“ Banken damit, Notfallpläne für den Insolvenzfall zu erstellen, eine Art „Testament“. In den USA ist der „Last Will“ zentraler Punkt des 2010 von Präsident Barack Obama unterzeichneten „Dodd-Frank-Act“ (Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act) zur Finanzmarktreform. In Österreich wurde diese Regelung im Juli im Parlament beschlossen. Für die sogenannten G-SIBs (global systemically important financial banks) sollen noch schärfere Kapitalvorschriften gelten als für kleinere Institute.

Um die Handelsplätze für Wertpapiere, Rohstoffe und Devisen etwas durchsichtiger zu gestalten, einigten sich zuletzt die 20 führenden Industrie- und Schwellenländer (G-20) auf ihrem Gipfel in Sankt Petersburg darauf, Schattenbanken (gemeint sind Hedge- und Private-Equity-Fonds sowie allgemein außerbörsliche Finanzgeschäfte) strenger zu überwachen. Die Umsätze in diesem Sektor sind mittlerweile auf eine Volumen von zuletzt fast 50 Bio. Euro gestiegen. Strengere Regeln sind auch für den Handel von Derivaten und anderen komplizierten Finanzprodukten im Gespräch.

Die Komplexität diverser Anlageformen hatte dazu geführt, dass private Investoren oft nicht nur in hochspekulative Papiere investierten - und während der Krise viel Geld verloren -, sondern auch oft keinen Überblick über die Risiken hatten. In Deutschland etwa sind inzwischen im Bankenhandel „Beipackzettel“ und Beratungsprotokoll Pflicht.

Optimistische und eher vorsichtige Töne

In der Frage, ob all diese Maßnahmen von Konjunkturpaketen über Rettungsschirme bis hin zur Bankenregulierung unter dem Strich ausreichen, um zu verhindern, dass sich ein Szenario wie das nach dem September 2008 wiederholt, gehen die Meinungen auseinander. Die Finanzwelt sei sicherer geworden, hieß es in einer kürzlich veröffentlichten Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW). Das Geld der Steuerzahler sei im Fall von Bankenkrisen heute „besser geschützt als bisher“.

Andere schlagen vorsichtigere Töne an. „Die Sicherheit, dass ein Fall wie Lehman nie wieder passieren kann, haben wir auch heute nicht", sagte Jörg Asmussen, deutsches Direktoriumsmitglied der EZB, dem „Handelsblatt“ zum Stichwort Lehman. Der Präsident der Deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, meinte, er sei „nicht erst seit der akuten Krisenphase vor fünf Jahren überzeugt, dass sich Krisen und Finanzmarktturbulenzen nicht völlig verhindern lassen“.

„Jahrestag der gebrochenen Versprechen“

„Wir leben immer noch im Schatten von Lehman“, lautete die Einschätzung von Jean-Claude Trichet, der in der „heißesten“ Phase der Krise EZB-Chef war, gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ („FAZ“) vergangene Woche. Auch EU-Währungskommissar Olli Rehn bleibt trotz positiver Konjunktursignale vorsichtig. Es gebe „keinen Grund zu irgendeiner Selbstzufriedenheit“. Er hoffe, niemand komme auf die Idee zu erklären, „die Krise ist vorbei“.

Anlässlich fünf Jahre Lehman-Pleite meldete sich am Freitag das globalisierungskritische Netzwerk ATTAC mit Kritik zu Wort. Der Jahrestag sei einer der „gebrochenen Versprechen“, hieß es in einer Presseaussendung. Die EU habe „immer noch nicht ihre Versprechungen für eine starke Regulierung des Finanzsektors umgesetzt“. Die europäischen Banken seien weiterhin unterkapitalisiert, außerdem seien „nur wenige ‚hochgiftige‘ Finanzprodukte“ verboten worden, nicht aber jene, die eine wesentliche Rolle in der Krise gespielt hätten.

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