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„Gigantische Herausforderung“

Im Tauziehen um einen militärischen Eingriff in Syrien wollen die USA dem Vorschlag Russlands, doch noch zu einer diplomatischen Lösung zu kommen, eine Chance geben. Experten sind jedoch skeptisch, dass eine chemische Entwaffnung Syriens tatsächlich machbar ist.

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Die russische Regierung hatte am Montag vorgeschlagen, die syrischen Chemiewaffenbestände unter internationale Aufsicht zu stellen und zu vernichten. Am Dienstag nahm die syrische Regierung den Vorschlag an. Beide Seiten teilten mit, sie wollten demnächst einen „konkreten Plan“ vorlegen, wie die Operation umgesetzt werden solle. Mit dem Vorstoß, der von US-Präsident Barack Obama als möglicherweise „bedeutender Durchbruch“ bezeichnet wurde, sollte ein US-Militärangriff auf Syrien abgewendet werden.

Kompliziert, riskant, kostspielig

Doch immer mehr Experten warnen davor, das als einfachen Ausweg aus dem Dilemma der USA zu sehen, die dem Einsatz von chemischen Waffen gegen die Zivilbevölkerung nicht tatenlos zusehen wollen. Schon in Friedenszeiten ist das Aufspüren und die Sicherung von chemischen Waffen alles andere als eine leichte Aufgabe. Das haben Beispiele im Iran, im Irak oder in Nordkorea bewiesen. Doch Syrien befindet sich im dritten Jahr eines blutigen Bürgerkriegs. Der Einsatz von Inspektoren der Vereinten Nationen würde dadurch noch einmal deutlich komplizierter, riskanter und kostspieliger.

Die Zerstörung der Bestände würde Milliarden kosten - die USA etwa haben 35 Milliarden Dollar ausgegeben, um in den letzten zwei Jahrzehnten 90 Prozent ihrer Chemiewaffenbestände in speziellen Anlagen zu verbrennen.

„Mitten in einem Kriegsgebiet“

„Das Kleingedruckte in dieser Abmachung macht mir große Sorgen“, sagte Amy E. Smithson der „New York Times“ („NYT“). Die Wissenschaftlerin forscht am Monterey Institute of International Studies zum Thema Chemiewaffen. „Es ist eine gigantische Herausforderung für die Inspektoren. Sie müssten die Produktion stilllegen, Fabriken schließen und eine Liste der Kampfstoffe sowie der Trägerwaffen erstellen. Dann müsste eine große Menge der Waffen zerstört werden - mitten in einem Kriegsgebiet.“

Die Probleme beginnen schon, bevor Inspektoren überhaupt Zugang zu möglichen Waffenfabriken und Lagerstätten bekommen. Denn vor einer Entsendung steht die Frage: Wie viele dieser Orte gibt es in Syrien, und wo liegen sie? Schätzungen gehen derzeit von bis zu 50 Lagerstätten aus. Zuletzt sollen die Regierungstruppen jedoch versucht haben, die Bestände an weniger Orten zu konzentrieren. Damit wären diese theoretisch besser vor einer Eroberung durch die Rebellen zu schützen.

„WSJ“: Assad ließ Chemiewaffen an 50 Orte bringen

Unterdessen berichtete das „Wall Street Journals“ („WSJ“), das Regime habe die C-Waffen auf bis zu 50 Orte im Land verteilen lassen. Eine geheime Einheit der Streitkräfte sei mit der Verlegung der Bestände und von Munition beauftragt worden, berichtete das „WSJ“ am Donnerstag (Ortszeit) unter Berufung auf Regierungsbeamte aus den USA und dem Nahen Osten. Die Quellen sagten der Zeitung, die Verteilung der Waffen könne einen etwaigen US-Militärschlag erschweren und stelle infrage, ob Damaskus seine C-Waffen-Bestände wirklich vernichten lassen wolle.

Das „WSJ“ berichtete, die Spezialeinheit „450“ sei schon seit Monaten damit beschäftigt, die Giftgasbestände im Land zu verteilen. Inzwischen gebe es fast zwei Dutzend Hauptlager, an denen die Waffen aufbewahrt würden. Hinzu kämen Dutzende kleinere Lager in allen Landesteilen. Dessen ungeachtet gingen US- und israelische Geheimdienste davon aus, dass sie wüssten, wo die meisten Chemiewaffen aufbewahrt würden, schrieb die Zeitung.

Über 1.000 Tonnen Giftgas in Assads Händen?

Nach Erkenntnissen des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND) hat Assad in den vergangenen Jahren mindestens 1.000 Tonnen Giftgas gehortet, allein 700 Tonnen dieses tödlichen Arsenals bestehen aus Sarin-Gas, daneben besitzt er mindestens jeweils noch einmal 100 Tonnen Senf- und VX-Gas. Zwar haben die Dienste durch Spionage und Satellitenbilder in den vergangenen Jahren ein halbes Dutzend Zentraldepots ausgemacht, ob sie aber alle entdeckt haben, ist völlig unklar, niemand will sich da festlegen.

Noch größere Bedenken weckt die katastrophale Sicherheitslage in Syrien. Ständig wechselnde Frontlinien, unsichere Bündnisstrukturen der Rebellen und die immer gegenwärtige Bedrohung durch Al-Kaida machen eine Sicherung der UNO-Mission zur logistischen Herausforderung. Von einem „Alptraum“ spricht ein namentlich nicht genannter Experte der US-Regierung laut „NYT“. Beobachter brauchten bei einem Einsatz im Kriegsgebiet bewaffnete Begleitkommandos, die stark genug wären, um einen Angriff aus einem der beiden Lager zu kontern.

„Wir sprechen über ‚boots on the ground‘“

„Wir sprechen hier über ‚boots on the ground‘“, also Bodentruppen, so ein namentlich nicht genannter, ehemaliger UNO-Waffeninspektor aus dem Irak. Einer Studie aus dem Pentagon zufolge könnten bis zu 75.000 Soldaten nötig sein, um die Sicherheit einer solchen Aktion zu gewährleisten. Die vollständige Zerstörung der Waffen könnte bis zu zehn Jahre dauern und erfordert zudem auch die volle Kooperation der syrischen Regierung.

„Es ist für mich schwer vorstellbar, wie das inmitten eines Bürgerkriegs geschehen soll“, sagte der Direktor der Nichtregierungsorganisation Arms Control Association, Daryl Kimball, der Nachrichtenagentur AFP. Als ersten Schritt müsste Syrien der Chemiewaffenkonvention beitreten. Dafür müsste die Regierung in Damaskus ihr Chemiewaffenprogramm komplett offenlegen.

Kehrtwende Syriens nötig

Michael Luhan, Sprecher der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW), sagte, Syrien müsste ein komplettes Inventar seines Arsenals „bis auf das Kilo der Stoffe und den Typ der Munition“ vorlegen. Für ein Land, das bis vor kurzem noch offiziell bestritt, überhaupt Chemiewaffen zu haben, wäre das eine radikale Kehrtwende.

USA: Diplomatische Lösung dauert „einige Zeit“

Auch die USA machten am Mittwoch klar, dass es keine schnelle diplomatische Lösung geben werde. „Ich vermute, das wird einige Zeit dauern“, sagte der Sprecher von Obama, Jay Carney, am Mittwoch in Washington. Ein zeitliches Limit, bis wann das Regime von Assad dem Vorschlag zur Beseitigung seiner Chemiewaffen nachkommen müsse, damit ein US-Militärschlag ausbleibt, nannte Carney nicht. Er bezeichnete es als „unverantwortlich“, der sich jetzt bietenden diplomatischen Möglichkeit nicht nachzugehen.

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