Familientat oder Industriespionage?
Ein Jahr nach dem mysteriösen Vierfachmord von Annecy konzentrieren sich die französischen und britischen Ermittler auf drei zentrale Spuren. Neben den Hinweisen auf zwei mögliche Erbstreitigkeiten in der Familie werde auch dem Verdacht der Industriespionage als Mordmotiv ernsthaft nachgegangen, sagte der Staatsanwalt im ostfranzösischen Annecy, Eric Maillaud, am Freitag.
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Er sprach zwar von „großen Fortschritten“ bei den Ermittlungen, die präsentierten Fakten waren aber wenig konkret. Die Ermittler in Frankreich und Großbritannien tappen in dem mysteriösen Fall eher noch immer im Dunkeln.
„Hinrichtung“ auf Waldparkplatz
Mit Kopfschüssen waren der aus dem Irak stammende Brite Saad al-Hilli, seine Frau Ikbal, deren Mutter und ein vermutlich zufällig vorbeikommender französischer Radfahrer am 5. September 2012 auf einem Waldparkplatz bei Annecy gezielt erschossen worden. Die beiden kleinen Töchter der al-Hillis überlebten die Bluttat.
Die in London ansässigen al-Hillis machten in der Region Urlaub. Vater Saad arbeitete als Ingenieur im sensiblen Luft- und Raumfahrtsektor, der französische Radfahrer für eine Nuklearfirma in Frankreich. Gefunden wurden die Leichen von einem britischen Ex-Soldaten, der in der Gegend mit seinem Fahrrad unterwegs war.
Profi am Werk?
Einigermaßen sicher sind sich die Behörden, dass ein Profi am Werk war. Vor allem in französischen Medien wurde zuletzt von einem engagierten Berufskiller gesprochen. Dafür spricht, dass drei der Opfer mit jeweils zwei Kopfschüssen getötet wurden. Doch wurde die Tat mit einer sehr alten Waffe verübt, einer Lugar P06, wie sie die Schweizer Armee und Polizei in den 1920er und 1930er Jahren verwendete. Für einen Profikiller sei das nicht unbedingt die Waffe der Wahl, geben Experten zu bedenken.
Bruder vorübergehend festgenommen
Erst im Juni hatte die britische Polizei den bei London lebenden Bruder Zaid al-Hilli wegen des Verdachts der Beteiligung an einem Mordkomplott festgenommen. Vor allem ominöse Telefonate nach Rumänien machten ihn verdächtig, er habe vielleicht dort den Schützen engagiert, wurde spekuliert. Der Bruder kam wenig später wieder frei, muss sich aber der Polizei zur Verfügung halten. Er beteuert weiterhin seine Unschuld.
Staatsanwalt Maillaud sagte nun, den Hinweisen zu dem Bruder werde weiter „aktiv“ nachgegangen. Der britische Ermittler Nick May fügte bei der gemeinsamen Pressekonferenz hinzu: „Zaid al-Hilli ist ein erklärter Verdächtiger.“ Er werde nach wie vor befragt. Der Ermordete habe Angst vor seinem Bruder gehabt, die beiden hätten einander gehasst, so die Ermittler.
Alle Telefonate aufgezeichnet
Maillaud verwies aber auch auf die Möglichkeit, dass Familienmitglieder im Irak beide Brüder wegen des Familienerbes beiseiteschaffen wollten. Der 2011 verstorbene Vater der Brüder besaß in Bagdad Immobilien, die seine Söhne als Erben für sich beanspruchten. Zudem hatte der Vater auf einem Schweizer Konto fast eine Million Euro liegen. Bei der Lösung des Falles sollen vor allem Tondokumente helfen, die Saad al-Hilli hinterlassen hat: Er zeichnete alle seine Telefonate auf.
Industriespionage als Motiv?
Erstmals ging Maillaud auch ausführlich auf den Verdacht der „Industriespionage und des Technologietransfers“ ein. „Saad al-Hilli hatte in seinem Besitz viel mehr Daten, als es seine Arbeit allein gerechtfertigt hätte“, sagte er. Laut bisherigen Informationen der Staatsanwaltschaft haben diese Informationen aber keinen Marktwert.
Saad al-Hilli arbeitete demnach für eine auf zivile Satelliten spezialisierte britische Firma, die für zahlreiche ausländische Staaten tätig ist. „Wenn ausländische Staaten und Industriespionage genannt werden, dann kann das auch auf den Einsatz von Geheimdiensten hindeuten“, fügte der Staatsanwalt hinzu. Dieser Teil der Ermittlungen sei „extrem komplex“, werde viel Zeit brauchen und womöglich nie zu etwas führen.
Dutzende Theorien
In der Presse waren zahllose Spekulationen aufgekommen, die von Geldwäsche für den irakischen Ex-Diktator Saddam Hussein bis zu einer Unterstützung des Iran durch das 50-jährige Mordopfer reichten. Die Theorie, dass der Radfahrer, der für eine Nuklearfirma in Frankreich arbeitete, das eigentliche Ziel des Angriffs war, wurde von den Ermittlern verworfen. Er sei nur „zur falschen Zeit am falschen Ort“ gewesen.
Auch andere Spekulationen machten die Runde: Touristenhass könnte das Motiv sein, wurde etwa gemutmaßt. Auch Verbindungen zu einem weiteren mysteriösen Mord an einem Touristen und zu einem Dreifachmord im Jänner durch einen Mann mit psychischen Problemen im kleinen Dorf Daillon im Schweizer Kanton Wallis wurden ohne Erfolg überprüft.
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