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„Baltischer Tiger“ verliert Nachkommen

Der radikale Reform- und Sparkurs Lettlands im Kampf gegen die Krise gilt als Erfolgsgeschichte und Vorbild für andere EU-Länder. Die sozialen Folgen sind aber anhaltend enorm: Wirtschaftliche Not treibt die Menschen in Scharen aus dem baltischen Land. Besonders sichtbar ist die Emigration in der Hauptstadt Riga, wo die Besiedelung abseits der aufgehübschten Innenstadt immer dünner wird.

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Diese Entwicklung lässt sich an den nackten Zahlen der nationalen Bevölkerungsstatistik eindeutig ablesen: Mehr als 108.000 Letten haben demnach zwischen 2009 und 2011 das EU-Land verlassen. Besonders drastisch lesen sich die Zahlen im Vergleich mit dem Jahr 1989, als noch 2,7 Millionen Menschen in Lettland lebten - gleich um mehrere hunderttausend Menschen schrumpfte die Bevölkerung seitdem, auch vor dem Hintergrund fallender Geburtenraten und dem Fall des Eisernen Vorhangs.

Anhaltende Abwanderung

Mit dem Abzug der russischen Armee und dem Rückgang der verarbeitenden Industrie verließen viele das Land in Richtung Russland bzw. in die GUS-Staaten. Die letzte lettische Volkszählung aus dem Jahr 2011 ergab, dass etwa 2,068 Millionen Menschen im Land leben. Im Vergleich zur Jahrtausendwende sind das ganze 13 Prozent weniger. Den jüngsten Angaben des nationalen Statistikamts zufolge hat man gegenwärtig die Zwei-Millionen-Grenze noch nicht unterschritten.

Doch mittelfristig nähert sich die Einwohnerzahl dem Stand der 1930er Jahre an. Sollte sich der aktuelle Trend fortsetzen - und kaum etwas anderes ist zu erwarten - , könnte laut dem US Census Bureau Lettlands Bevölkerung bis zum Jahr 2050 auf etwa 1,54 Millionen sinken. Gegenwärtig kehren dem Land etwa 30.000 Personen jährlich den Rücken.

Vom Aufschwung direkt ins Desaster

Der Braindrain stelle eine ernsthafte Bedrohung für die Zukunft Lettlands dar, warnt Präsident Andris Berzins regelmäßig. Dabei schien - zumindest in ökonomischer Hinsicht - vor ein paar Jahren noch alles in Ordnung zu sein. Lettland erlebte als „baltischer Tiger“, wie der Ostsee-Staat aufgrund seiner zweistelligen Wachstumsraten nach dem EU-Beitritt 2004 bezeichnet wurde, einen rasanten Aufschwung der Wirtschaft. Ähnlich wie in anderen Staaten saß damals das Geld bei den Banken leicht, an einen Kredit zu kommen war für jedermann jederzeit einfach möglich.

Doch 2008 kam die Wirtschaftskrise, die Lettland stärker als jedes andere EU-Land traf und für die Bürger schmerzhafte Einschnitte brachte. Als die Wirtschaft zwischen 2008 und 2010 um mehr als 20 Prozent einbrach, reagierte die Regierung in Riga mit einem drastischen Sparkurs. Die öffentlichen Ausgaben wurden radikal gekürzt und die Steuern markant nach oben geschraubt. Es kam zu breiten Entlassungen und kollektiven Gehaltseinschnitten - die Arbeitslosigkeit schnellte praktisch auf einen Schlag auf 20 Prozent hoch. Viele laufende Kredite konnten nicht mehr zurückgezahlt werden.

Extrem niedrige Löhne, schwache Sozialleistungen

Die Folge war ein massenhafter Exodus der Verzweifelten und Qualifizierten - der bis heute anhält. Kein Wunder, wenn Ziele wie etwa Großbritannien oder Irland mit weit höheren Löhnen und besserer sozialer Absicherung warten. Ein besonders großer Zuwachs wurde in Großbritannien im Jahr 2009 verzeichnet, als dort 15.835 Neuankömmlinge aus Lettland registriert wurden. Unterdessen liegt der Durchschnittslohn in Lettland bei gerade einmal 680 Euro im Monat. Mehr als ein Viertel aber muss mit dem Mindestlohn von rund 290 Euro auskommen.

12,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind arbeitslos. Die Jugendarbeitslosigkeit hat sich von 42 Prozent im Jahr 2010 mittlerweile zwar halbiert, die Maßnahmen dafür waren jedoch sehr einschneidend: Im Zuge der Sparmaßnahmen verabschiedete man sich von der Idee eines Wohlfahrtsstaates. Dafür rückte man dem „Workfare“-Konzept näher, das staatliche Transferleistungen an die Verpflichtung zur Arbeitsaufnahme knüpft.

Gut Ausgebildete vergrault

Das Resultat waren etwa Akademiker, die - weil sie über einen längeren Zeitraum keinen Job finden konnten - gemeinnützige Jobs in der Straßenreinigung annehmen mussten, um nicht völlig durch das ohnehin breitmaschige soziale Netz zu fallen. Das schreckte die jungen Hochqualifizieren ab, vielen dieser dringend benötigten Gruppe verließen das Land.

Überdies sind die finanziellen Unterstützungen für Familien absolut unzureichend. Zudem herrscht ein Mangel an Kinderärzten und Kindergärten. Auch Präsident Berzins räumte bereits ein, die meisten Menschen verspürten trotz des Endes der Krise bisher keine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation. Und der deprimierende Status quo ist noch nicht das Ende: Etwa die Hälfte aller Letten plant nach Umfragen, angesichts der Umstände in naher Zukunft das Land zu verlassen. Umgekehrt wollen nur 20 Prozent der Auswanderer innerhalb der nächsten fünf Jahre zurückkehren.

Programm soll zur Rückkehr animieren

Mit einem neuen Programm will die Regierung nun Exil-Letten Anreize für eine Heimkehr bieten. Das lettische Wirtschaftsministerium rechnet mit 120.000 neuen Arbeitsplätzen bis 2030. Besetzt werden sollen sie vorwiegend mit Auswanderern, denen die Regierung zudem finanzielle Anreize und praktische Unterstützung in Aussicht stellt. Doch der Spielraum ist eng: Für das Jahr 2014 sieht der Plan kümmerliche 1,1 Millionen Euro vor.

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