Offene Gewalt spaltet Gesellschaft
Seit dem Sturz von Präsident Mohammed Mursi durch das Militär nimmt die Sorge, Ägypten könnte in einen Bürgerkrieg geraten, stetig zu. Die Hinweise darauf verdichten sich zunehmend - der Spalt in der Gesellschaft wird angesichts der brutalen Gewalt zwischen Muslimbrüdern und den Sicherheitskräften immer breiter.
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Anlass zur Sorge geben die neuesten Entwicklungen, die erkennen lassen, wie schnell sich die gesellschaftlichen Gruppen voneinander wegbewegen: So wurden unter anderem in Kairo Zivilisten scheinbar wahllos von anderen Zivilisten angegriffen. Nach Berichten wurden häufig Bartträger attackiert, weil diese für Islamisten gehalten worden waren.
Mit Eisenstangen gegen Mursi-Anhänger
Auch am Hauptschauplatz der Gewalt am Samstag machten sich entsprechende Tendenzen bemerkbar: Eine von Hunderten Islamisten seit Freitagabend besetzte Moschee auf dem Ramses-Platz im Kairoer Zentrum wurde nach Feuergefechten zwischen den Belagerern und der Polizei auf Geheiß der Regierung zwangsgeräumt.

APA/AP/Ahmed Gomaa
Sicherheitskräfte durchkämmen Sammelplätze der Muslimbrüder
Das Gotteshaus diente den Muslimbrüdern auch als Leichenhalle - Dutzende bei Protesten getötete Demonstranten lagen aneinandergereiht auf dem Boden. Die Räumungstrupps bekamen Unterstützung von Zivilisten: Anrainer der Moschee gingen teils mit Stöcken und Eisenstangen auf Mursi-Anhänger los. „Das sind Terroristen“, rief die aufgebrachte Menge nach Angaben von Nachrichtenagenturen. Offiziellen Angaben zufolge wurden landesweit binnen 24 Stunden mehr als 170 Menschen getötet.
Übergangsregierung bleibt kompromisslos
Die Übergangsregierung hatte zuletzt ihr brutales Vorgehen auch gegen massive internationale Kritik gerechtfertigt und erklärt, sie müsse ein „terroristisches Komplott der Muslimbrüder“ niederschlagen. Es könne keine Aussöhnung mit denen geben, die „Blut an den Händen“ oder gegen das Gesetz verstoßen hätten, sagte Interims-Ministerpräsident Hasem al-Beblawi am Samstag in Kairo. Die Drohgebärden gingen sogar noch weiter.
Vertreter der Übergangsregierung sollen mittlerweile ein Verbot der Muslimbruderschaft in Erwägung ziehen. Zugleich wurde gedroht, mit „eiserner Faust“ gegen „Terrorismus“ vorzugehen. Experten sehen diese Taktik der Übergangsregierung mit einem klaren Ziel verbunden: So könne man noch gezielter und härter gegen Organisationen vorgehen, wenn diese nach einem Verbot vom Untergrund aus agieren. Noch einfacher könne man Verhaftungen vornehmen, man könne noch repressiver vorgehen, meinen Experten.
Gleichzeitig kamen auch mildere Signale: So sicherte Beblawi den Muslimbrüdern eine Teilhabe am politischen Übergangsprozess zu, sofern diese nicht für Gewalttaten verantwortlich sind. Auch die Muslimbrüder seien „willkommen, sich dem friedlichen Marsch der Ägypter in die Zukunft anzuschließen“, sagte ein Berater von Übergangspräsident Adli Mansur am Samstag vor Journalisten. Beobachter sehen in diesen Worten jedoch nicht mehr als Kalkül.
Hunderte Festnahmen - Ermittlungen eingeleitet
Indes verschärft auch die Justiz ihre Gangart gegen die Muslimbruderschaft. Wie die staatliche Nachrichtenagentur MENA am Samstagabend meldete, sind gegen 250 Anhänger der Bruderschaft Ermittlungen wegen Mordes, versuchten Mordes und Terrorismus eingeleitet worden. Am Freitag hatte die Polizei mehr als 1.000 Anhänger der Muslimbrüder festgenommen.

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Ausschreitungen vor der Al-Fath-Moschee in Kairo
Am Sonntag wurde die Festnahme von Safwat Hegasi, einem einflussreichen Prediger aus den Reihen der Muslimbruderschaft, bekannt. Aus Sicherheitskreisen in Kairo hieß es, außer Hegasi seien noch sechs weitere führende Mitglieder der Islamisten-Bewegung festgenommen worden. In Giseh, einem Vorort von Kairo, wurde nach offiziellen Angaben der Bruder von Al-Kaida-Chef Ayman al-Zawahri festgenommen. Mohammed al-Zawahri werde die Unterstützung Mursis vorgeworfen, sagten Vertreter der Sicherheitsbehörden.
Sohn von Oberhaupt bei Unruhen getötet
Unterdessen wurde bekannt, dass der Sohn von Muslimbrüder-Oberhaupt Mohammed Badie, Ammar Badie, bei den Unruhen in Kairo am Freitag getötet worden ist. Das teilte der politische Arm der Muslimbrüder, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, am Samstag auf seiner Facebook-Seite mit. Ammar Badie sei an den Folgen einer Schussverletzung gestorben, die er am Freitag im Rahmen der Proteste auf dem Ramses-Platz erlitten habe, hieß es. Der momentane Aufenthaltsort seines Vaters Mohammed ist unbekannt. Er wurde wegen „Anstachelung zum Hass“ angeklagt, der Prozess gegen ihn soll am 25. August beginnen.
Präsidentenwahl 2012 gefälscht?
Nach Informationen eines anerkannten israelischen Politikers soll die ägyptische Armee aus Furcht vor Unruhen den Ausgang der Präsidentenwahl in dem Land gefälscht haben. Demnach habe der Vertreter des alten Systems, Ahmed Schafik, die Stichwahl im Juni 2012 knapp gegen den Islamisten Mohammed Mursi gewonnen, schrieb Yossi Beilin am Sonntag in der Zeitung „Israel Hayom“. Das Militär habe aber gefährliche Unruhen befürchtet, falls Mursi nicht gewinnen würde. Schafik gehörte zum System des im Februar 2011 gestürzten Präsidenten Hosni Mubarak.
Ein namentlich nicht genannter ägyptischer Regierungsvertreter habe die Wahlfälschung im Gespräch mit ihm zugegeben, schrieb der ehemalige israelische Justizminister. „Die Armee ging davon aus, dass der unerfahrene Mursi einer gemeinsamen Verwaltung mit der Armee zustimmen würde, auch hinsichtlich der Beziehungen mit Israel“, schrieb Beilin. In der Realität habe Mursis Regime jedoch Unfähigkeit in der Verwaltung gezeigt und versucht, dem gesamten Volk seine islamistische Weltsicht aufzuzwingen. Mursi habe auch das mächtige Militär in die Schranken gewiesen.
Ex-Vizepräsident ElBaradei in Wien angekommen
Der ägyptische Ex-Vizepräsident Mohammed ElBaradei kam unterdessen mit einem Flugzeug aus Kairo in Wien an. Er wurde von den Sicherheitskräften des Flughafens an der in der Ankunftshalle wartenden Journalistenmenge vorbeigeschleust und daraufhin direkt in seine Wohnung in der Wiener Innenstadt gebracht. Er wollte bei seiner Ankunft keine Erklärungen abgeben.
Der frühere Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) war am Mittwoch aus Protest gegen die jüngste Gewalteskalation als Vizepräsident, ein Amt, das er nach Mursis Sturz kurzzeitig übernommen hatte, zurückgetreten. Er hatte bereits im Jahr 2011 für den Sturz des Langzeitherrschers Hosni Mubarak gekämpft und sich danach kritisch zu den Tendenzen zur Errichtung eines islamistischen Regimes unter Mursi geäußert. Sein Rückhalt in der ägyptischen Bevölkerung gilt als gering.
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