Polizeistation in Brand gesetzt
Die Gewalt in Ägypten nimmt kein Ende: In der Nacht auf Freitag halfen Bewohner in der Provinz al-Minia der Ordnungspolizei zu verhindern, dass ihre Kaserne im Bezirk Abu Karkas gestürmt wird. Augenzeugen berichteten zudem dem Nachrichtenportal Youm7, die örtliche Polizeistation sei angezündet worden. Radikale Islamisten riefen unterdessen für den „Freitag der Wut“ zur Bewaffnung auf.
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In der Nähe des Tahrir-Platzes in der Hauptstadt Kairo seien in der Früh vor Ende der Ausgangssperre Schüsse zu hören gewesen, berichteten lokale Medien. In der Stadt al-Arisch auf der Sinai-Halbinsel wurde das Gebäude der Steuerbehörde in Brand gesetzt. Augenzeugen sagten, nachdem Anrainer zunächst versucht hätten, den Brand zu löschen, seien die Angreifer mit neuen Brandbomben wiedergekommen. Diesmal hätten sie das Feuer „überwacht“, damit niemand eingreift.
„Freitag der Wut“ steht bevor
Es droht eine neue Welle der Gewalt: Die Muslimbrüder und Parteien aus dem radikalislamischen Spektrum riefen für Freitagnachmittag zu neuen Protesten gegen das Militär und die Übergangsregierung auf. Einige radikale Islamisten riefen die Demonstranten über den Kurznachrichtendienst Twitter auf, sich zu bewaffnen.
Anhänger des radikalen Dschihad wollen am Freitag gemeinsam mit den Muslimbrüdern gegen die vom Militär eingesetzte Übergangsregierung protestieren. Unter dem Motto „Freitag der Wut“ seien friedliche Kundgebungen geplant, aber niemand könne garantieren, dass es nicht auch zu Gewalt und Brandanschlägen komme, sagte der Generalsekretär der Islamischen Partei, Mohammed Abu Samra, dem Nachrichtenportal der Kairoer Tageszeitung „Al-Masri al-Jom“. Gerade junge Menschen seien sehr erzürnt.
„Terrorattacken der Muslimbrüder“
Nach dem Massaker am Mittwoch mit mindestens 638 Toten zeigt sich die Regierung unerbittlich. Man werde entschlossen gegen „Terrorakte“ der Muslimbrüder vorgehen, hieß es in einer Erklärung der Regierung am Donnerstag in Kairo. Es gebe einen „kriminellen Plan“, die Säulen des ägyptischen Staates zu zerstören. Allerdings bemühe sich die Regierung auch um einen politischen Prozess, der all denjenigen offenstehe, die nicht in die Gewaltausbrüche verwickelt seien.
Zudem wies das Innenministerium die Polizei an, ab sofort mit scharfer Munition auf „Plünderer und Saboteure“ zu schießen. In einer Erklärung des Ministeriums hieß es, der Anlass dafür seien „Terrorattacken der Organisation der Muslimbrüder auf verschiedene Einrichtungen von Regierung und Polizei in mehreren Provinzen“. Damit solle verhindert werden, dass öffentliche Gebäude in Brand gesetzt und Waffen aus Polizeistationen gestohlen werden.
Wenige Stunden zuvor hatten Hunderte Demonstranten ein Regierungsgebäude in Giseh bei Kairo gestürmt und in Brand gesteckt. Zudem wurden mehrere Polizeiwachen attackiert. In al-Arisch setzten Unbekannte die Stadtverwaltung in Brand. Die Gewalt war am Mittwoch in zahlreichen Städten eskaliert, nachdem die Sicherheitskräfte zwei Protestlager der Mursi-Anhänger in Kairo geräumt hatten. Es kam zum schlimmsten Blutvergießen an einem einzigen Tag in Ägypten in Jahrzehnten.
Über 630 Tote, 4.000 Verletzte
Bereits nach dem brutalen Einschreiten der Polizei verteidigte die Regierung ihre Entscheidung, die Protestlager der Muslimbrüder aufzulösen. „Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die Dinge einen Punkt erreicht haben, den kein sich selbst achtender Staat akzeptieren darf“, sagte Ministerpräsident Hasem al-Beblawi in einer TV-Ansprache. Vizepräsident Mohamed ElBaradei reichte aus Protest gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte seinen Rücktritt ein.
Das Gesundheitsministerium erhöhte die Totenzahl am Donnerstagabend auf 638, fast 4.000 Menschen seien verletzt worden. Die Muslimbruderschaft sprach von 3.000 Toten. Das Militär hatte den ersten frei gewählten Präsidenten Ägyptens Anfang Juli nach Massenprotesten seiner Gegner abgesetzt. Am Donnerstag verlängerten die Behörden die Haft Mursis um 30 Tage.
UNO-Sicherheitsrat: „Aggressionen“ einstellen
Der UNO-Sicherheitsrat verurteilte unterdessen am Donnerstag die Gewalt in Ägypten. Zugleich wurden alle Parteien aufgerufen, die „Aggressionen“ einzustellen, wie Argentiniens Vertreterin Maria Cristina Perceval als derzeitige Ratspräsidentin nach einer Dringlichkeitssitzung des Gremiums mitteilte.
Demnach wurden die Ratsmitglieder vom stellvertretenden UNO-Generalsekretär Jan Eliasson über die jüngsten Entwicklungen informiert und erörterten die Lage. Sie hätten darin übereingestimmt, dass „es wichtig ist, die Gewalt in Ägypten zu beenden, dass die Parteien äußerste Zurückhaltung üben“, sagte Perceval. Aus ihrer persönlichen nationalen Sicht verurteilte sie den Sturz Mursis durch das Militär und sprach von einem „Staatsstreich“. Die jüngste Eskalation mit Hunderten Toten und Tausenden Verletzten war durch die gewaltsame Räumung von zwei Protestlagern der Mursi-Anhänger in Kairo ausgelöst worden.
EU-Regierungen suchen nach gemeinsamer Haltung
Auch die Regierungen der 28 EU-Staaten wollen möglichst rasch eine gemeinsame politische Haltung zur Krise in Ägypten finden. Über ein mögliches Sondertreffen der EU-Außenminister werde voraussichtlich Anfang der kommenden Woche entschieden, sagten EU-Diplomaten am Freitag in Brüssel. Das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK), in dem die Botschafter der EU-Regierungen vertreten sind, wurde für Montag nach Brüssel einberufen.
Eine Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton teilte mit, bei den Beratungen der Regierungsvertreter gehe es um eine Koordinierung der Positionen der EU und ihrer Mitglieder sowie um „mögliches Handeln“. Das Botschaftergremium werde auch „ein mögliches Treffen des Außenministerrates vorbereiten“. Laut der bisherigen EU-Terminplanung würden sich die EU-Außenminister erst wieder am 6./7. September in Vilnius (Litauen) treffen. Mehrere Minister machten jedoch deutlich, dass sie raschere Beratungen wünschen.
USA sagen Militärmanöver mit Ägypten ab
Angesichts der Gewalt in Ägypten sagte US-Präsident Barack Obama alle geplanten Militärmanöver mit den ägyptischen Streitkräften ab. Ägypten sei auf einem „gefährlichen Weg“, sagte Obama am Donnerstag bei einer Pressekonferenz. Angesichts der Geschehnisse könnten die Vereinigten Staaten ihre Beziehung mit dem Land derzeit nicht wie gewohnt weiterführen, so Obama.
Er habe den Nationalen Sicherheitsrat aufgefordert zu ermitteln, ob weitere Konsequenzen notwendig seien. Ob dazu auch ein Einfrieren der milliardenschweren Militärhilfe gehört, sprach Obama nicht an. Die USA wollten ein enger Partner Ägyptens bleiben, sagte er. Die USA unterstützen Ägypten jährlich mit 1,5 Milliarden Dollar (rund 1,13 Mrd. Euro) - der Großteil dieses Betrags entfällt auf das Militär.
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