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Das Spiel um die Macht neu eröffnet

Die Armee in Ägypten hat den demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi abgesetzt und nun selbst die Macht im Land übernommen. Offiziell will man für einen geordneten Übergang inklusive demokratischer Wahlen sorgen. Doch der Coup der Militärs wirft viele Fragen auf. Handelt es sich dabei um einen Putsch oder um einen Umsturz?

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Die Armee hat nach dem Sturz von Langzeitmachthaber Hosni Mubarak bereits einmal das Land regiert und das auf chaotische Weise, so die Kritik. Nach den Wahlen gab der Generalstab dann die Macht an die Muslimbruderschaft ab. Diese sind eine der wenigen Organisationen bzw. Parteien, die in ganz Ägypten Strukturen aufgebaut haben. Ihre Stärke war die Wählermobilisierung, und so gewann sie die ersten freien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen.

„Guardian“: Muslimbrüder spielten Armee in die Hand

Die Armee schritt auch diesmal ein. Man sieht sich als vermeintlich über den politischen Niederungen schwebende Ordnungsmacht. Zuvor hatte es noch einen von der Armee initiierten Vermittlungsversuch gegeben. Die Muslimbrüder hatten allerdings Gespräche abgelehnt. Ein Verhalten, das der Armee offenbar gelegen kam und ihr in die Hände gespielt hat, wie der britische „Guardian“ schreibt. Es sei unklar gewesen, ob der Vermittlungsversuch überhaupt ernst gemeint gewesen sei, so die Zeitung weiter.

Wirtschaft wichtigstes Problem

Die Anti-Mursi-Demonstranten hatten Mursi schwer kritisiert. Er habe sich nicht um die Nöte des Volks gekümmert, die Wirtschaft vernachlässigt, nur den Ausbau der eigenen Macht betrieben. Hier kommt auf die neuen Machthaber viel Arbeit zu, hier gilt es anzusetzen, sind sich internationale Beobachter einig. Die durch die Unruhen und Unsicherheiten schwer angeschlagene Wirtschaft, wie etwa der Tourismus, muss wieder auf Touren gebracht werden, um die Lage der Bevölkerung zu verbessern. Auch internationale Investoren müssen wieder Vertrauen finden.

Militär als wirtschaftliche Großmacht

Doch gerade bei der Wirtschaft gibt es große Eigeninteressen des Militärs. Das Offizierskorps gilt als eine der wohlhabendsten Gesellschaftsgruppen in Ägypten. Im Dienst oder bereits im Ruhestand, kontrollieren die Generäle große Teile der Wirtschaft - von Immobilien über Zementfabriken bis hin zu Mineralwasserabfüllern.

Zudem sind die Streitkräfte finanziell durch den Staat und das Ausland bestens gerüstet. Die USA unterstützen die ägyptische Armee mit Ausrüstung und 1,3 Milliarden Dollar (rund eine Mrd. Euro) jährlich. Deshalb nahm US-Präsident Barack Obama in einer ersten Stellungnahme zu dem Machtwechsel auch das Wort „Putsch“ nicht in den Mund. Politisch wäre es für die USA schwierig und wenig opportun, mit einer durch einen Putsch an die Macht gekommenen Militärdiktatur zusammenzuarbeiten. Auch die ägyptischen Generäle lehnten die Bezeichnung „Putsch“ ab. Sie argumentieren damit, dass sie nicht selbst die Macht übernehmen wollten.

Droht der nächste Machtkampf?

Nach dem Sturz Mubaraks hielt zunächst der Oberste Militärrat unter Marschall Hussein Tantawi die Zügel fest in der Hand. Nach der anfänglichen Begeisterung der Bevölkerung über die Rolle der Armee während der Rebellion warf die Opposition Tantawi vor, die autoritären Herrschaftsstrukturen beizubehalten und für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu sein.

Auch nach der Einleitung eines demokratischen Übergangs ließ die Armee nur langsam von der Macht. Mitte August 2012 entschied der im Juni gewählte Mursi den Machtkampf für sich und schickte Tantawi in den Ruhestand. Ein ähnliches Spiel mit anderen Personen könnte auch diesmal auf Ägypten zukommen.

Sisi um Symbolkraft bemüht

Immerhin erlegten sich die Generäle diesmal Zurückhaltung auf. An der Spitze der neuen Interimsregierung steht Verfassungsgerichtspräsident Adli Mansur. Außer dem Verteidigungsminister und Armeekommandanten Abdel Fattah al-Sisi werden ihr nur Zivilisten angehören. Sisi präsentierte sich bei seiner Rede staatstragend und war um gesellschaftlichen Konsens bemüht.

Deshalb standen hochrangige Vertreter der wichtigsten religiösen und politischen Gruppierungen wie etwa der Chef des wichtigen Al-Ahsar-Islam-Instituts und der Koptenpapst bei seinem Fernsehauftritt symbolisch an seiner Seite. Der Oppositionsführer Mohammed ElBaradei durfte ebenfalls das Wort ergreifen. Er sprach davon, dass die Forderungen des Volkes aufgegriffen wurden und es jetzt einen Neustart der Revolution von 2011 gebe, wie die BBC berichtete.

Neustart durch Neuwahlen erhofft

Das politische Hauptprojekt der Interimsregierung wird die Vorbereitung von Neuwahlen und die Änderung strittiger Verfassungsparagrafen sein. Die junge Demokratie werde noch einmal die Chance auf einen Neustart bekommen, glauben die Mursi-Gegner.

International ist man da hingegen nicht so sicher. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle etwa bezeichnete den Umsturz als schweren Rückschlag für die Demokratie in dem nordafrikanischen Land. „Es ist ein schwerwiegender Vorgang, dass die ägyptischen Streitkräfte die verfassungsmäßige Ordnung ausgesetzt und den Präsidenten seiner Amtsbefugnisse enthoben haben“, sagte Westerwelle am Donnerstag in Athen. „Eine solche Aussetzung der demokratischen Ordnung ist keine nachhaltige Lösung der großen Probleme, vor denen Ägypten steht.“

Wie Anschein des Militärputsches vermeiden?

Der außenpolitische Berater von Mursi, Essam al-Haddad, sagte, allerdings nicht uneigennützig: „Lassen Sie uns das, was geschieht, bei seinem richtigen Namen nennen: Militärputsch.“

Die konservative Pariser Zeitung „Le Figaro“ sieht einen Drahtseilakt der Armee. „Das Spiel ist delikat. Es gilt, den Anschein eines Putsches zu vermeiden, der die Unterstützung aus den USA gefährden könnte, und es muss auch verhindert werden, dass sich die Islamisten als Opfer eines Staatsstreichs gegen die Demokratie präsentieren, die sie weder zum Laufen bringen konnten noch wollten. Zudem bleibt noch das Schwierigste: Es gilt, in Ägypten einen echten Rechtsstaat zu errichten - mit den Muslimbrüdern, die von nun an im Hinterhalt lauern werden“, analysiert die französische Zeitung.

Donnerstagabend versicherte sich die Übergangsregierung der Unterstützung durch die USA. In einem Telefonat erklärte der ägyptische Außenminister Mohammed Kamel Amr seinem US-Amtskollegen John Kerry, das Militär habe sich nicht an die Macht geputscht. „Amerika ist ein strategischer Partner Ägyptens, und das Wohlergehen Ägyptens ist den USA wichtig“, sagte Amr, der bis zur Einsetzung einer Technokraten-Regierung das Land nach außen vertritt.

„Ich hoffe, dass die USA die Situation richtig interpretieren. Es war der Wille der überwältigenden Mehrheit des Volkes“, sagte der Diplomat. Kerry habe ihm versichert, dass Ägypten ein strategischer Verbündeter sei, dessen Stabilität entscheidend sei.

Experte: Wieder am Nullpunkt angelangt

Die Muslimbrüder werden sich mit dem Machtverzicht, egal wie die Armee nun gegen sie vorgeht, nicht abfinden. Sie sehen sich um das Ergebnis von legitimen Wahlen gebracht. Wie radikal und gewaltsam der Widerstand ausfallen wird, lässt sich noch nicht abschätzen. Und auch nicht, ob die künftige Zivilregierung den Herausforderungen gewachsen sein wird. „Wir sind wieder am Nullpunkt angelangt“, meinte der Politologe Chalil al-Anani vom Middle East Institute in Washington. „Mit der Armee am Ruder, mit einem politischen Vakuum und mit zornigen Islamisten.“

„Entzauberung“ vorantreiben

Es sei keine Lösung, die Muslimbrüder aus der Politik zu vertreiben, schrieb auch der britische „Guardian“. Einerseits würden diese dann umso mehr auf ihre Opferrolle pochen, andererseits könnten in den Untergrund verdrängte Muslimbrüder später wieder zu einem großen Problem für den Staat werden. Die Muslimbrüder seien bekanntlich einige der wenigen, die in ganz Ägypten Strukturen aufgebaut haben. Der Kurs müsse in Richtung „Entzauberung“ gehen. Wie schwer die Muslimbrüder bereits entzaubert bzw. angeschlagen sind und wie viel Rückhalt sie noch in Teilen der Bevölkerung haben, lässt sich jetzt noch schwer einschätzen.

Mansur streckt die Hände aus

Der am Donnerstag in Ägypten zum Übergangspräsidenten ernannte Chef des Verfassungsgerichtes, Adli Mansur, streckte, während gegen hochrangige Vertreter der islamistischen Organisation Haftbefehle ausgestellt wurden, den Muslimbrüdern die Hand aus. Sie seien ein Teil der Nation und eingeladen, an deren Gestaltung mitzuwirken, sagte Mansur am Donnerstag in Kairo. Die Zeitung „al-Ahram“ zitierte ihn weiter mit den Worten, wenn sie diese Einladung annähmen, würden sie nicht ausgeschlossen.

Doch insgesamt gilt die Machtübernahme des Militärs als schwerer Schlag für die Muslimbrüder - auch in anderen Ländern des „arabischen Frühlings“ wie etwa Tunesien.

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