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Vorfall ist „Pleite des Rechtsstaates“

Experten des Rechtssystems, die sich zu einer „Allianz gegen die Gleichgültigkeit im Strafvollzug“ zusammengeschlossen haben, fordern die Wiedereinführung des vor rund zehn Jahren aufgelösten Jugendgerichtshofs (JGH). Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem grünen Justizsprecher Albert Steinhauser am Montag in Wien übten Proponenten der Allianz heftige Kritik an Missständen im Strafvollzug.

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So bezeichnete die Strafverteidigerin Alexia Stuefer es als „absurd“, dass bei sinkender Kriminalität die Haftzahlen steigen. Den Fall des 14-Jährigen, der Anfang Mai in der Untersuchungshaft von Mitgefangenen mit einem Besenstiel vergewaltigt worden war, bezeichnete Stuefer, Generalsekretärin der Vereinigung österreichischer Strafverteidiger, als „Pleite des Rechtsstaates“.

„Weggesperrt und sich selbst überlassen“

Die österreichische Gesellschaft sei so beschaffen, dass sie „Kinder - und ein Jugendlicher mit verzögerter Reife ist ein Kind - wegsperrt und sich selbst überlässt“, konstatierte die Juristin. Die Vollziehung, wie sie jetzt passiere, „ist nicht gesetzeskonform“. Vorgesehen sei, dass Inhaftierte in der Nacht einzeln untergebracht seien. Es sei darüber hinaus „internationaler Standard, dass Jugendliche von Erwachsenen getrennt untergebracht werden“.

Der Richter Oliver Scheiber zeigte sich davon überzeugt, dass die Vergewaltigung des 14-Jährigen zu verhindern gewesen wäre. Es sei ein Fehler gewesen, dass der Jugendgerichtshof im Jahr 2003 geschlossen wurde. In anderen Bereichen, etwa der Korruptionsbekämpfung, gehe man den umgekehrten Weg hin zu mehr Spezialisierung. Im Strafvollzug sei das aber nicht machbar.

SPÖ: „Speziell qualifizierte Gerichte“ nötig

Für eine Wiedereinführung des Jugendgerichtshofs sprach sich davor auch SPÖ-Justizsprecher Hannes Jarolim aus: Angesichts des Vorfalls des 14-jährigen Burschen sei das „ein Gebot der Stunde“, befanden Jarolim und Wolfgang Moitzi, Vorsitzender der Sozialistischen Jugend Österreich, vergangene Woche. Es sei wichtig, straffällig gewordenen Jugendlichen eine zweite Chance zu geben.

Justizministerin Beatrix Karl

APA/Herbert Pfarrhofer

Drei Tage nach Bekanntwerden des sexuellen Übergriffs räumte Justizministerin Karl ein Fehlverhalten der Justiz ein

„Dazu braucht es eine spezialisierte Jugendgerichtsbarkeit im Anschluss an Entwicklungen in anderen europäischen Staaten. Diese sollte in speziell qualifizierten Gerichten wie dem ehemaligen Wiener Jugendgerichtshof geschehen, bei denen die gesamten strafgerichtlichen Kompetenzen sowie die Vormundschafts- und Pflegschaftssachen konzentriert sind, um multidisziplinär die problematischen Fälle analysieren und managen zu können.“

Jugendrichter: Mehr Übergriffe seit JGH-Auflassung

Auch für Norbert Gerstberger, Jugendrichter am Wiener Straflandesgericht und Obmann der Fachgruppe Jugendrichter in der Richtervereinigung, hängt der Vorfall mit der Auflassung des JGH zusammen. „Im Unterschied zu früher kommt es im Jugendgefängnis häufiger zu sexuellen Übergriffen. Jeder in unserer Abteilung bekommt einmal im Jahr so einen Fall“, sagte er kürzlich. Der damalige Justizminister Dieter Böhmdorfer (FPÖ) integrierte den JGH 2003 ins Wiener Straflandesgericht. „Die räumlichen Verhältnisse sind hier beengter, Vorgänge in den Hafträumen schwerer kontrollierbar.“

Böhmdorfer hatte den JGH eigentlich mit der Begründung schließen lassen, dass die Haftbedingungen für jugendliche Straftäter in der Strafanstalt Erdberg „menschenrechtsunwürdig“ seien und die Hafträume nicht mehr renoviert werden hätten können. Udo Jesionek, einst Präsident des Jugendgerichtshofs und jetzt Präsident der Opferhilfe Weißer Ring - ebenfalls Teil der nun gegründeten Allianz - kritisierte damals, dass unter Böhmdorfer die Freizeitbeschäftigungen gestrichen worden seien.

Jugendpsychiater: Zu wenig Therapiemöglichkeiten

Kinder- und Jugendpsychiater Ernst Berger sagte am Montag, dass die Haftbedingungen in der Wiener Justizanstalt Josefstadt für Kinder und Jugendliche Teil einer überforderten Großanstalt seien. Es gebe keine zusätzlichen Ausbildungsangebote für die Justizwachebeamten und viel zu wenig therapeutische Betreuungsmöglichkeiten. Jesionek erklärte, es gehe im Jugendstrafvollzug auch darum, alles zu tun, „um zu verhindern, dass der Jugendliche rückfällig wird, wenn er rauskommt“.

Experten fordern Alternativen zur U-Haft

Die Allianz forderte neben der Wiedererrichtung des JGH die Einrichtung von Jugendkompetenzzentren in den Ballungsräumen und die Umsetzung von Alternativen zur Untersuchungshaft für Jugendliche, wie das laut den Proponenten in Ländern wie Schweden, der Schweiz und Italien der Fall ist. Darüber hinaus sollte das Angebot an Pädagogen, Therapeuten, Psychologen und Sozialarbeitern verstärkt werden. Das Personal müsste nach Meinung der Allianz aufgestockt werden, damit die Einschlusszeiten verringert werden könnten. Steinhauser zufolge werden Häftlinge teilweise schon um 14.30 Uhr eingeschlossen. Die Beschäftigungs- und Ausbildungsmöglichkeiten müssten aufgestockt werden, so die Allianz.

Weiters will die Allianz kurze Freiheitsstrafen von bis zu sechs Monaten durch freiwillige gemeinnützige Arbeit ersetzen. Nicht zuletzt müssten die Besuchsmöglichkeiten ausgebaut werden. Und nicht zuletzt, wie es Caritas-Generalsekretär Klaus Schwertner formulierte: „Kinder gehören nicht ins Gefängnis.“ Oder Steinhauser, der betonte, nicht Teil der überparteilichen Allianz zu sein: „Es ist niemandem gedient, wenn Häftlinge die Haft kaputter verlassen als sie hineingekommen sind.“

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