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Die Mär von der Regulierungswut

Als am 15. Juni 1988 eine EU-Verordnung für Obst und Gemüse erlassen wurde, die unter anderem den Krümmungsgrad von Salatgurken festlegte, wurde Brüssel mit Hohn und Spott überschüttet. Die „Gurkenkrümmungsverordnung“ wurde zum Sinnbild für Bürokratie und Regulierungswahn. Dabei hatten Ländern wie Österreich, wo am lautesten gespottet wurde, längst fast idente Gesetze.

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Auf sieben Seiten wurden in der Verordnung (EWG) Nr. 1677/88 Qualitätsnormen für Obst und Gemüse festgelegt. Für Salatgurken heißt es unter anderem: Sie müssten von „frischem Aussehen“ sein und in der ersten Qualitätsklasse frei von „Formfehlern“ sein - und eben nur noch maximal zehn Millimeter auf zehn Zentimeter Länge gekrümmt. Das war einerseits eine gute Nachricht für Spediteure und Supermärkte, denn so passten die Gurken problemlos in Kisten, andererseits ein gefundenes Fressen für EU-Gegner und Kabarettisten.

Heimische Gurken seit 1968 gerade

Auch wenn Österreich zum Verordnungserlass 1988 noch gar nicht in der EU war, die „Gurkenkrümmungsverordnung“ wurde auch an heimischen Stammtischen rasch zum Symbol für einen aufgeblähten Brüsseler Beamtenapparat, der von oben herab Dinge bis ins kleinste Detail regelt. Dabei war die Gurke hierzulande schon viel länger normiert. Ein Qualitätsgesetz für Gemüse - und damit auch für Gurken - trat 1968 in Kraft, wobei sich auch damals bereits die Leute darüber lustig machten, wie in dem Artikel „EU-Gurkenkrümmung: Dichtung und Wahrheit“ der Gesellschaft für Europapolitik nachzulesen ist.

Tatsächlich hatte die EU 1988 mit ihrer Verordnung lediglich Empfehlungen der UNO-Wirtschaftskommission und der Welternährungsorganisation (FAO) der UNO übernommen. Österreich war als Mitglied dieser Gremien aktiv an der Entstehung der internationalen Normen beteiligt. Damit brachte der EU-Beitritt 1995, anders als viele Medien berichteten, zumindest rein rechtlich für die heimischen Gurkenbauern nichts Neues - in der Praxis rankten sich die Gurkenpflanzen nun nicht mehr am Boden, sondern wuchsen von oben nach unten, wodurch die Gurke schön gerade blieb.

Gesetz besteht - indirekt - weiter

Die treibende Kraft hinter der Verordnung war jedoch nicht willkürliche Regulierungswut, sondern der Handel: Der wollte verbindlich geregelt wissen, wie viele Gurken in einer standardisierten Einheitskiste sein sollten. Zudem sollte der Verbraucher sichergehen können, dass sich in einer Kiste nur Gurken vergleichbarer Qualität befinden. Ähnliche Definitionen von Handelsklassen gab es auch - und gibt es teilweise noch immer - für anderes Obst und Gemüse. So wurden neben Gurken auch Melonen, Lauch, Erdbeeren und Bananen in Klassen eingeteilt und normiert.

Daher war es wenig überraschend, dass die Abschaffung der Verordnung 1677/88 20 Jahre später nur mit Mühe gelang: 16 der 27 EU-Staaten - darunter auch Großproduzenten wie Spanien und Frankreich - waren bis zuletzt für das Fortbestehen der Verordnung über den Krümmungsgrad, was aber nicht ausreichte, um die Kommission an der Aufhebung zu hindern. Stolz verkündete die damalige EU-Agrarkommissarin Mariann Fischer Boel 2008: „Dies bedeutet einen Neuanfang für die krumme Gurke und die knorrige Karotte.“

Österreich enthielt sich bei der Abstimmung der Stimme. Man sei zwar für Vereinfachungen, versicherte die Sektionschefin im Landwirtschaftsministerium, Edith Klauser, damals der APA, für die Produzenten und die Supermärkte bedeute das aber einen erheblichen Mehraufwand. Diese halten bis heute an der Norm fest - womit europäische Gurken innerhalb und außerhalb der EU weiterhin gerade sein müssen.

Ist der Ruf erst ruiniert ...

Auch aus dem kollektiven Gedächtnis ist die „Gurkenkrümmungsverordnung“ nicht verschwunden. Der Glaube an die Regelungswut der EU hält sich hartnäckig, wenn auch manchmal nur als Gerücht. „Die EU verbietet Kindern nicht das Aufblasen von Luftballons“, musste die EU-Kommission erst letztes Jahr klarstellen. Erst vor wenigen Wochen gab sie eine Mitteilung mit dem Titel „EU sperrt keine Sprungtürme in Schwimmbädern“ heraus: Dass nach Norden ausgerichtete Sprungtürme wegen einer drohenden Blendung der Badegäste durch die Sonne verboten werden sollen, sei „völliger Quatsch“, so die EU-Kommission.

Allerdings schaffen es die Beamten in Brüssel bei allen Missverständnissen auch selbst immer wieder, dass ihre Ideen Kopfschütteln hervorrufen. Kürzlich wollte die EU-Kommission offene Olivenölkännchen auf Europas Restauranttischen verbieten, um die Qualität des Produkts zu sichern. Erst angesichts massiver Kritik und beißenden Spotts zog sie die einer Zeitung zufolge „vielleicht schrägste Entscheidung seit der legendären Gurkenkrümmungsverordnung“ zurück.

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