Zahlreiche Verletzte
Im Rahmen einer großangelegten Polizeiaktion ist in der Nacht auf Mittwoch der Taksim-Platz von Istanbul und damit der Ausgangspunkt der Proteste in der Türkei gewaltsam geräumt worden. Ein Ende des Widerstands der Regierungskritiker ist dennoch nicht in Sicht.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Die Staatsmacht setzte bei der am Dienstagabend gestarteten Offensive erneut Wasserwerfer und Tränengas gegen die Demonstranten ein, die wiederum die Polizisten mit Steinen und Molotowcocktails bewarfen. Zumindest 30 Demonstranten wurden offiziellen Angaben zufolge bei den neuen Auseinandersetzungen verletzt. Medienberichten zufolge könnte die Zahl aber weit über hundert liegen. Auf dem Platz selbst waren in der Früh nur noch Einsatzkräfte und Bulldozer zu sehen, die Trümmer und Barrikaden wegräumten.

APA/AP/Thanassis Stavrakis
Der von der Polizei geräumte Taksim-Platz
Fernsehbilder zeigten, dass sich die Demonstranten in die Nebenstraßen des Platzes und den benachbarten Gezi-Park zurückzogen. Laut BBC kam es hier Mittwochfrüh zu weiteren Zwischenfällen. Die Behörden hatten zuvor versichert, dass das Protestlager im Gezi-Park nicht geräumt werden soll. Dennoch drangen bereits Dienstagabend nach Angaben von Aktivisten erneut Sicherheitskräfte in das Camp ein. Zusammenstöße wurden zudem aus der Hauptstadt Ankara gemeldet. Auch dort setzte die Polizei Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein.

APA/AP/Vadim Ghirda
Die am Dienstag begonnenen Straßenkämpfe hielten bis Mittwochfrüh an
USA: „Verfolgen Ereignisse mit Besorgnis“
Wie zuvor bereits UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon äußerte sich auch das Weiße Haus beunruhigt über das Vorgehen der türkischen Polizei. „Wir verfolgen die Ereignisse in der Türkei mit Besorgnis und unterstreichen das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit“, sagte Caitlin Hayden, Sprecherin des Sicherheitsstabs von Präsident Barack Obama, am Dienstag (Ortszeit) in Washington. Die Türkei sei ein enger Verbündeter der USA. Washington erwarte von den türkischen Behörden, dass sie die fundamentalen Freiheiten verteidigen.
Ashton fordert Engagement der EU
Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton warnte die Europäische Union angesichts der Unruhen davor, auf Distanz zur Türkei zu gehen. „Das ist nicht der Moment, sich zu lösen, sondern sich noch stärker zu engagieren“, sagte sie am Mittwoch im Europaparlament in Straßburg. „Unsere Beziehung zur Türkei gibt uns eine wirkliche Möglichkeit zum Einfluss, wenn wir sie nutzen. Wir müssen das Beste aus allen Werkzeugen machen, die uns zur Verfügung stehen“, sagte sie.
Ashton forderte, die EU solle sich bei den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stärker bei jenen Verhandlungskapiteln engagieren, die wichtig für die Reformpolitik seien. Die Außenbeauftragte kritisierte scharf den unverhältnismäßigen Einsatz der türkischen Polizei gegen Demonstranten und Beschränkungen der Pressefreiheit.
Außenministerium: Erhöhte Sicherheitsgefährdung
Nach Angaben des österreichischen Außenministeriums besteht wegen der anhaltenden Protestwelle eine „erhöhte Sicherheitsgefährdung“ in der Türkei. „Es wird in allen türkischen Städten empfohlen, größere Menschenansammlungen unbedingt zu meiden und weiträumig zu umgehen. Ein Ende der Unruhen ist derzeit nicht abzusehen“, hieß es am Mittwoch in den Reiseinformationen des Ministeriums.
Wie der Sprecher des Außenministeriums, Martin Weiss, präzisierte, gelte für die traditionellen Tourismusgebiete der Türkei keine „erhöhte Sicherheitsgefährdung“. Auch bestehe für die Türkei keine „Reisewarnung“ wie für Syrien, den Irak und den Jemen.
Gouverneur verteidigt Vorgangsweise
Die neue Eskalation bei den Türkei-Protesten begann bereits Dienstagfrüh, nachdem von der Polizei zunächst Barrikaden rund um den Taksim-Platz aus dem Weg geräumt worden waren. Nach kleineren Auseinandersetzungen zwischen Polizeieinheiten und Demonstranten während des gesamten Tages folgte am Abend schließlich der Großeinsatz. Nach einem Aufruf der Protestbewegung waren am Abend Zehntausende Menschen auf den Platz und in umliegende Straßen geströmt.
Die Polizei zog sich zunächst an den Rand zurück, griff dann aber an. Sie feuerte auch mit Gummigeschoßen, Demonstranten schossen mit Steinschleudern und warfen Steine. Dienstagfrüh waren auf die Wasserwerfer aus den Reihen der Protestierenden Brandsätze geworfen worden. Aktivisten im Gezi-Park-Camp distanzierten sich von diesen Aktionen und erklärten, es handle sich um von der Polizei bestellte Provokateure.

AP/Thanassis Stavrakis
Polizei stürmt den Taksim-Platz erneut
Der Gouverneur der Provinz Istanbul, Hüseyin Avni Mutlu, wies den Vorwurf zurück. Obwohl das gewaltsame Vorgehen der Polizei auch auf Fernsehbildern klar zu erkennen war, erklärte er zudem über den Kurzmitteilungsdienst Twitter, mit dem Einsatz sollten nur Plakate und Spruchbänder auf dem Platz entfernt werden. In einer TV-Ansprache sagte Mutlu, man werde „gnadenlos“ gegen die Demonstranten vorgehen, „sei es Tag oder Nacht, bis diese Randgruppen verschwunden sind und der Platz der Bevölkerung offensteht“. Die Menschen sollten sich um ihrer eigenen Sicherheit willen von dem Platz fernhalten, warnte Mutlu.
Erdogan wettert erneut gegen „Vandalen“
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan verteidigte seinerseits den Einsatz und warf den Demonstranten erneut vor, sie hätten sich von Extremisten und internationalen Finanzkreisen instrumentalisieren lassen. In einer Rede vor Abgeordneten seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP in Ankara dankte Erdogan demonstrativ der Polizeiführung. Den Demonstranten warf er Vandalismus und erhebliche Zerstörungen bei den Protesten in den vergangenen zwei Wochen vor.

APA/EPA/Sedat Suna
Brennende Autos auf dem Taksim-Platz
Es gebe einen Versuch, die Türkei mit Beteiligung ausländischer Kräfte wirtschaftlich in die Knie zu zwingen und Investoren einzuschüchtern, so Erdogan. Ursprünglich hatten sich die seit Tagen andauernden Proteste an einem Plan zur Überbauung des Gezi-Parks am Rande des Taksim-Platzes entzündet. Die Protestwelle bekam starken Auftrieb, als die Polizei mit Gewalt ein Zeltlager im Gezi-Park räumte. Inzwischen richten sich die Demonstrationen vor allem gegen den als autoritär kritisierten Kurs Erdogans.
Gül ruft zu Dialog auf
Der türkische Präsident Abdullah Gül rief unterdessen zum Dialog auf. Demonstranten, die Gewalt ausgeübt hätten, seien aber ausgenommen, sagte er am Mittwoch vor Journalisten in Rize am Schwarzen Meer. Gül hatte in Zusammenhang mit den Protesten einen gemäßigteren Ton angeschlagen als Erdogan, der die Demonstranten als Gesindel bezeichnet hatte. Gül stellte sich aber an Erdogans Seite, indem er sagte, Gewalt werde nicht geduldet.
„Der Kampf geht weiter“
Trotz der Eskalation ist weiterhin ein Termin zu Gesprächen zwischen Vertretern der Demonstranten und Erdogan aufrecht. Das Treffen fand Mittwochnachmittag am Sitz der AKP in Ankara statt. Die Vertreter der Demonstranten würden „über die Fakten informiert, und unser Ministerpräsident wird sich anhören, was sie zu sagen haben“, sagte Erdogans Stellvertreter Bülent Arinc bei der Ankündigung des Treffens.
Regierungsgegner machten sich unterdessen keine Hoffnungen im Hinblick auf das Gespräch: „Ist das zu glauben? Sie attackieren Taksim, setzen Tränengas gegen uns ein, nachdem sie uns gerade erst Gespräche angeboten haben“, sagte der 23-jährige Demonstrant Yulmiz gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Andere Demonstranten riefen: „Das ist nur der Anfang, der Kampf geht weiter.“ Bei den Demonstrationen gab es seit Ende Mai vier Tote und geschätzt 5.000 Verletzte.
Dutzende Anwälte verhaftet
Die harte Linie gegen die Erdogan-Kritiker beschränkt sich indes nicht auf die Demonstranten auf dem Taksim-Platz. So wurden etwa am Dienstag Dutzende Juristen im Gerichtsgebäude Caglayan in Istanbul zeitweise festgenommen und stundenlang verhört. Laut der türkischen Anwaltskammer verlangten die Juristen Ermittlungen zu den brutalen Polizeieinsätzen. Kammerpräsident Metin Feyzioglu protestierte scharf gegen die Verhaftung der Juristen.
„Die türkische Polizei hat bei den Demonstrationen der vergangenen Tage mit ihren Tränengasgewehren direkt auf Menschen gefeuert. Sie haben sie wie scharfe Waffen eingesetzt. Deswegen gibt es so schlimme Verletzungen“, sagte Feyzioglu. „Die Anwälte wollten die blinden Augen und tauben Ohren der Staatsanwalt erreichen“, sagte er. Der für die Sicherheit im Gericht zuständige Staatsanwalt habe aber wegen Terrorismusverdachts die Polizei gerufen. „Es waren schreckliche Szenen“, sagte er.
Geldstrafe für regierungskritische Sender
Die Rundfunkbehörde RTÜK geht einem Zeitungsbericht zufolge nun gegen regierungskritische Sender vor. Halk TV, Ulusal TV und zwei weitere Fernsehsender müssten eine Geldstrafe zahlen, berichtete die Tageszeitung „Hürriyet“ (Onlineausgabe) am Mittwoch. Den TV-Stationen werde vorgeworfen, gegen Sendeprinzipien verstoßen zu haben und mit ihren Programmen die geistige und moralische Entwicklung junger Menschen zu gefährden. Halk TV ist einer von wenigen Sendern, die durchgehend über die Proteste in der Türkei berichten.
Links: