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„Fehler“ im Polizeieinsatz eingeräumt

Tausende Demonstranten sind am Samstag in Istanbul erneut gegen die Politik der islamisch-konservativen Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auf die Straße gegangen. Rund um den zentralen Taksim-Platz setzte die Polizei - wie bereits tags zuvor - Wasserwerfer und Tränengas gegen die Demonstranten ein.

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Einsatzkräfte gingen gegen Demonstranten vor, die in einer Einkaufsstraße, der Istiqlal-Fußgängerzone, eine Barrikade errichtet hatten. Zusammenstöße mit der Polizei wurden auch aus dem zentralen Stadtviertel Besiktas gemeldet. Angesichts der neuen Proteste erklärte Erdogan in einer im TV übertragenen Rede, dass die Einsatzkräfte weiter gegen die Demonstranten vorgehen werden.

Regierung will nötige Vorkehrungen treffen

Die Polizei werde am Wochenende im Stadtzentrum präsent bleiben, sagte Erdogan in einer Rede, die im Fernsehen übertragen wurde. Der Taksim-Platz dürfe „kein Ort sein, an dem Extremisten machen können, was sie wollen“. Seine Regierung werde die nötigen Vorkehrungen treffen, um „die Sicherheit von Menschen und ihres Eigentums“ sicherzustellen, sagte Erdogan. Zugleich bekräftigte er, an dem Bauvorhaben im Gezi-Park am Taksim-Platz festzuhalten, gegen das sich die Proteste mitunter richten. Allerdings begannen sich die Sicherheitskräfte am Samstagnachmittag von dem Platz zurückzuziehen.

Demonstranten flüchten vor Tränengasgranaten

Reuters/Osman Orsal

Wieder setzte die Polizei Tränengas gegen die Demonstranten ein

Nach dem Rückzug der Polizei entspannte sich die Lage laut dpa zunächst. Am Abend kam es aber erneut zu Zwischenfällen. Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten wurden unter anderem aus dem Stadtteil Besiktas gemeldet. Den Angaben von Aktivisten zufolge wurde von der Polizei Tränengas eingesetzt. Türkischen Medienberichten zufolge sei von Demonstranten zudem ein Polizeiauto angezündet worden.

Über 900 Festnahmen

Unterdessen lieferte das Innenministerium eine erste Bilanz der Proteste. 939 Personen seien bei 90 verschiedenen Demonstrationen festgenommen worden, sagte Innenminister Muammer Guler am Samstagabend im staatlichen türkischen Fernsehen. Ein Teil von ihnen sei bereits wieder freigelassen worden. 79 Menschen wurden demnach verletzt.

Erdogan räumte zuvor auch Fehler und unangemessene Härte bei dem Polizeieinsatz auf dem Taksim-Platz ein. „Der Einsatz von Pfefferspray durch die Sicherheitskräfte war ein Fehler. Nun gut. Ich habe das Innenministerium angeordnet, dies zu untersuchen“, sagte Erdogan. Die Demonstranten rief er auf, die Proteste zu beenden. Die gewählte Regierung werde sich nicht einer Minderheit beugen.

Demonstration brutal niedergeschlagen

Schon am Freitag und in der Nacht auf Samstag setzte die Polizei Tränengas, Pfefferspray und Wasserwerfer gegen Teilnehmer des Protests ein. Bei den Straßenschlachten wurden laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) mehr als 100 Menschen verletzt. Nach offiziellen Angaben wurden zwölf Menschen im Krankenhaus behandelt, darunter eine Frau mit einem Schädelbruch. Die Polizei berichtete von 63 Festnahmen.

Demonstrant mit Fahne wird von einem Wasserwerfer getroffen

Reuters/Osman Orsal

Und erneut wurden gegen Demonstranten Wasserwerfer eingesetzt

Städtisches Parkprojekt als Auslöser

Auslöser der Proteste war ein Projekt zur Errichtung eines Einkaufszentrums im Gezi-Park neben dem Taksim-Platz. Für das Bauvorhaben sollen in der beliebten Parkanlage 600 Bäume entwurzelt werden. Mit dem Camp hatten die Demonstranten seit Anfang der Woche versucht zu verhindern, dass diese Grünflächen zerstört werden. Erdogan erklärte am Samstag, die Pläne für eine Umgestaltung des Parks ungeachtet der gewaltsamen Demonstrationen weiter verfolgen zu wollen. Der Protest gegen die Pläne sei lediglich ein Vorwand einiger Gruppen, um Spannungen zu schüren, so Erdogan.

„Tayyip, Rücktritt“

Der Unmut der Öffentlichkeit richtet sich auch gegen andere Großprojekte der Regierung, etwa die neue Brücke über den Bosporus und einen dritten internationalen Flughafen für Istanbul, aber auch grundsätzlich gegen eine als autoritär kritisierte Politik von Erdogans islamisch-konservativer Regierung, die zuletzt etwa für rigide Alkoholgesetze eintrat. Die Proteste in Istanbul gehören zu den stärksten seit dem ersten Amtsantritt Erdogans vor mehr als zehn Jahren. Demonstranten auf dem Taksim-Platz skandierten an die Adresse Erdogans auch „Tayyip, Rücktritt“ und „Tayyip, schau wie viele wir sind“.

Polizisten vor dem zerstörten Fenster einer Bank

Reuters/Murad Sezer

Gebäudefronten am und im Umkreis des Taksim-Platzes wurden zerstört

Viel Wut in Reihen der Opposition

In Oppositionskreisen hatte sich zuletzt viel Wut über die Politik der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP angestaut, die aus Sicht ihrer Gegner generell immer weniger Rücksicht auf die Interessen Andersdenkender, etwa Verfechter der strikten Trennung von Religion und Staat, nimmt. Die größte türkische Oppositionspartei hatte die Regierung zuvor zu Deeskalation aufgerufen. Die Polizei müsse vom Taksim-Platz abgezogen werden, zitierten türkische Medien am Samstag den Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu.

Zehntausende Menschen gingen auch in mehreren anderen türkischen Städten auf die Straßen. So setzten die Polizei auch in der Hauptstadt Ankara Tränengas ein, um Demonstranten vor der AKP-Zentrale zu vertreiben. Die aktuellen Proteste in Istanbul gehören zu den stärksten seit dem Amtsantritt von Erdogan vor mehr als zehn Jahren.

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