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„Lachsalven wie Sturmgewehre“

Die Uraufführung des Balletts „Le sacre du printemps“ („Die Frühlingsweihe“) von Igor Strawinsky am 29. Mai 1913 ist als berühmtester Musikskandal in die Geschichte eingegangen. Anhänger der Darbietung und Unruhestifter gerieten heftig aneinander. Schon nach den ersten Takten hatte sich im Pariser Theatre des Champs-Elysees Unruhe verbreitet, dann Geschrei und schließlich eine handfeste Schlägerei.

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„Man lachte, höhnte, pfiff, ahmte Tierstimmen nach, und vielleicht wäre man dessen auf die Dauer müde geworden, wenn nicht die Menge der Ästheten und Musiker in ihrem übertriebenen Eifer das Logenpublikum beleidigt, ja tätlich angegriffen hätte. Der Tumult artete in einem Handgemenge aus“, berichtete der Schriftsteller Jean Cocteau.

„Le massacre du printemps“

„Und über diesen Höllenlärm gingen immerfort wie Sturmgewehre Lachsalven und gegnerisches Klatschen, während die Musik weiter wütete und auf der Bühne die Tänzer unentwegt und prähistorisch tanzten. Am Schluss der Vorstellung schlug Welt und Halbwelt aufs Haupt“, beschrieb der Chronist Harry Graf Kessler die Krawalle.

Komponist Igor Strawinsky

AP

Igor Strawinsky (1882 bis 1971)

Das Licht im Saal wurde mehrmals aus- und eingeschaltet, die Polizei griff ein, Strawinsky selbst floh durch ein Fenster hinter die Bühne. Seinen Aussagen zufolge konnte die Aufführung nur durchgepeitscht werden, weil der Dirigent Pierre Montreux „Nerven wie ein Krokodil“ bewies. Am Ende wurden 27 Verletzte gezählt. Der Komponist Claude Debussy prägte das Bonmot vom „massacre du printemps“ („Frühlingsmassaker“).

Polytonalität und Polyrhythmus

Der Aufruhr hatte mehrere Gründe. Zuallererst lag es an der Musik - radikal neu, melodienfeindlich und mit hartem Rhythmus. Strawinsky ging es nicht um symphonische Entwicklungen oder einen motivischen Zusammenhang, sondern um die Kombination mehr oder weniger kurzer Klangelemente, die er nach- und übereinander schichtete. Polytonalität und Polyrhythmik wären die Schlagworte.

Wie in der neuen Kunst des Films lebt das Werk von Tempo und Schnitttechnik. Zugleich evoziert es das Bild einer pulsierenden Maschinerie mit sich langsam oder rasend schnell drehenden Zahnrädern aus Musik. Die Zeit der Futuristen brach an, und bald kam der Begriff „Maschinenmusik“ in Mode.

Hüpferei statt Spitzentanz

Proteststürme löste auch Waslaw Nijinskys Choreografie aus, die von der rhythmischen Gymnastik ausging und in völligem Widerspruch zum Kanon des klassischen Balletts stand. Der „Gott des Tanzes“ erfand für den „Sacre“ komplizierte Schrittfolgen und ersetzte Spitzentanz und elegante Sprünge durch Stampfen und Hüpfen. „Der arme Kerl konnte weder Noten lesen noch irgendein Instrument spielen“, lästerte Strawinsky und machte allein Nijinsky für den Skandal verantwortlich.

Balletttänzerin aus "Sacre du Printemps"

ORF/Belair Media/Valentin Baranovsky

Finale (YouTube) „Danse sacrale. L’Elue“ („Heiliger Tanz. Die Auserwählte“)

Bis heute ist die choreografische Umsetzbarkeit des „Sacre“ umstritten, wirkt Strawinskys komplexe Partitur stellenweise antitänzerisch. Seinen Siegeszug trat der „Sacre“ deshalb erst als Konzertstück - ohne Ballett - an, Teile wurden später auch Soundtrack im Walt-Disney-Trickfilm „Fantasia“ (1940). Der kulturindustriekritische Philosoph Theodor Adorno urteilte streng: „Gebrauchsmusik.“

Frühling als brutale Naturgewalt

Ein weiterer Grund für den Uraufführungsskandal war das Thema. Strawinsky hatte „die Vision einer großen heidnischen Feier. Alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen“, wie der Komponist in seiner Autobiografie schrieb.

Dinosaurier aus dem Film "Fantasia"

picturedesk.com/Mary Evans

Begleitmusik zur Entstehung der Erde und dem Schicksal der Dinosaurier in Disneys „Fantasia“

Der Frühling erscheint nicht mehr als ahnungsvolles Wehen lauer Lüfte und geheimnisvolle Sehnsucht wie in der romantischen Vorstellung, sondern als wilde Naturgewalt, die – alles erneuernd – mit brutaler Urkraft durchbricht. Ausgelöst wird er durch einen blutigen Ritualmord auf der Tanzbühne. „Das Werk eines Wahnsinnigen“, attestierte der Komponist Giacomo Puccini seinem Kollegen, „Virtuosenstück der Regression“ Adorno.

“Industrieller Dionysos-Kult“

Der „Sacre“ ließ das Pariser Publikum ahnen, wie dünn die zivilisatorische Decke war, die es von dieser Urform des „Heiligen“, dem Blutopfer trennte. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud legte gerade den verdrängten Triebgrund der Zivilisation bloß, Russland stand vor der Revolution, der Ausbruch des Ersten Weltkriegs lag in der Luft - all das schwang in Strawinkiys „Sacre“ mit und bildete den Nährboden für den Skandal vor mehr als 100 Jahren.

Balletttänzer aus "Sacre du Printemps"

ORF/Belair Media/Valentin Baranovsky

„Vision einer großen heidnischen Feier" in der Rekonstruktion des Originalballetts

Der Philosoph Günther Anders ortete im Jazz argwöhnisch einen „industriellen Dionysos-Kult“. Der Begriff bringt auch den „Sacre“ auf den Punkt, denn auch er verband Antizivilisatorisches mit dem Maschinellen und fügte sich nicht in das Weltbild des bürgerlichen Publikums: weder musikalisch noch choreografisch noch inhaltlich.

Programmierter Skandal

Der Eklat war damit auch vorhersehbar. Der Impresario Sergej Djagilew, der mit seinem Ballets Russes seit 1909 regelmäßig in Paris gastierte, musste Erfolge vorweisen, um das Überleben seines Ensembles zu gewährleisten. Dafür setzte er auch auf gezielte Provokation, denn ein Skandal bedeutete nicht Misserfolg, sondern Publicity.

Als Stawinskys Auftraggeber erkannte Djagilew die Sprengkraft des „Sacre“, die darin bestand, „dass man ein kräftiges, jugendliches Werk mit einem dekadenten Publikum konfrontierte, das sich in den Girlanden im Stil Ludwigs XVI. in den venezianischen Gondeln und in den weichen Diwans und Kissen des Orientalismus wohlfühlte“, wie Cocteau befand: Revolutionäre Kunst und konservative Bildungsaristokratie trafen im Kulturbetrieb unvermittelt aufeinander. Viele Besucher an diesem Abend waren ohnehin voreingenommen und von der Presse, die Djagilew zur Generalprobe eingeladen hatte, aufgeputscht.

„Genau das, was ich gewollt habe“, sagte Djagilew, der sich selbst als „großen Scharlatan“ und zugleich „Schutzherr der Künste“ charakterisierte, nach dem Uraufführungseklat zufrieden. Und Strawinsky machte er endgültig zur Berühmtheit. „Zweifellos wird man bald verstehen, dass ich einen Überraschungscoup auf Paris gelandet habe, Paris aber unpässlich war. Bald wird es seine schlechte Laune vergessen“, konstatierte Strawinsky. Er behielt recht.

Armin Sattler, ORF.at

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