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„Verwundere mich!“

Anfang des letzten Jahrhunderts bescherte ein russisches Ensemble dem europäischen Ballett eine wahre Blütezeit: Es entstand eine moderne Tanzsprache in Einheit mit neuer Musik und Bühnenbildern berühmter Künstler wie Leon Bakst und Picasso. Im vorrevolutionären Russland erfassten die politischen und sozialen Veränderungen auch die Kunstwelt.

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Der Tänzer und Choreograph Michail Fokin war es, der damals in St. Petersburg mit den von Marius Petipa bestimmten strengen Regeln des Tanzes brach und zu einem Wegbereiter des modernen Balletts wurde. Dank der Zusammenarbeit Fokins mit dem Kunstmanager Sergej Djagilew (1872 bis 1929) begann 1909 der weltweite Siegeszug des russischen Balletts.

Waslaw Nijinsky

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Waslaw Nijinsky setzte in der Tanzkunst neue Akzente

„Etonne moi!“ („Verwundere mich!“) lautete Djagilews Credo und Arbeitsauftrag. Der Ballettimpresario organisierte am 19. Mai 1909 in Paris am Theatre du Chatelet erstmals seine „Russischen Saisons“, um die Kunst seiner imperialen Heimat im Westen bekanntzumachen. Tänzer des Petersburger Mariinsky- und des Moskauer Bolschoi-Theaters, unter ihnen der legendäre Waslaw Nijinsky (geboren zwischen 1888 und 1890, gestorben 1950), der wegen seiner fast schwerelos wirkenden Sprünge als „achtes Weltwunder“ bezeichnet wurde.

Ballett als Gesamtkunstwerk

Djagilew und Fokin begriffen wie keiner vor ihnen das Ballett als Gesamtkunstwerk. Mit legendären Aufführungen wie „Les Sylphides“ (1909) und zu Musik von Igor Strawinskys „Der Feuervogel“ (1910) und „Petruschka“ (1911) wurde der Grundstein für diese einzigartige Ballettrevolution gelegt. Auch Fokins „Scheherazade“ (1910) mit der Musik von Nikolai Rimski-Korsakow und „Daphnis und Chloe“ (1912) mit der Musik von Maurice Ravel standen am Anfang dieser neuen Epoche.

Die Ballets Russes, bei denen Choreographen, Tänzer, Komponisten und Künstler als Bühnendesigner für die größte ästhetische Einheit zusammenarbeiteten, setzten Akzente. Etwa 20 Jahre dauerte diese Periode an, bis das Ensemble um Djagilew nach dessen Tod 1929 zerfiel und seine Mitstreiter eigenständig die Tradition fortsetzten und entwickelten.

„Gott des Tanzes“ und „Clown Gottes“

So erfolgreich die Ballets Russes zu Lebzeiten ihres Organisators auch waren, es kam immer wieder auch zu schöpferischen Brüchen. Eine erste Zäsur war es, als Fokin 1912 ging und Nijinsky sein Talent als Choreograph entdeckte. Der „Gott des Tanzes“ entwarf ganz im Sinne Djagilews einen provokativen und revolutionären Tanzstil, der mit klassischen Sehgewohnheiten brach. So sorgte vor allem Nijinskys Choreographie zu Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ (1913) um Fruchtbarkeitsrituale und Menschenopfer für Furore. Seine geometrisch-abstrakten Tanzfiguren prägten ganze Generationen.

Doch endete Nijinskys Arbeit bei den Ballets Russes abrupt, nachdem er nach einer mehrjährigen Affäre mit Djagilew 1913 heiratete und Djagilew ihn feuerte. Von 1918 an litt Nijinsky, der sich in seinen Tagebüchern „Clown Gottes“ nannte, immer mehr unter einer psychischen Krankheit. Rund 30 Jahre lebte er in geistiger Umnachtung und starb 1950 in London.

Sergej Diaghilev

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Der Impresario Sergej Djagilew in einem Porträt von Walentin Alexandrowitsch (1909)

„Scharlatan“ und „Schutzherr der Künste“

Später übernahm Djagilews Liebhaber Leonide Massine die Leitung der Compagnie. Die Verbindung des glühenden russischen Zaristen Djagilew mit der westlichen Kunstwelt wurde zu jener Zeit immer intensiver. Künstler wie Henri Matisse, die Komponisten Erik Satie und Claude Debussy und die Modeschöpferin Coco Chanel arbeiteten für ihn. Djagilew selbst konnte wegen des Ersten Weltkrieges und der Oktober-Revolution nicht in seine Heimat zurückkehren, zumal danach die Ideologisierung der Kunst in der Sowjetunion einsetzte.

Fünf Jahre vor seinem Tod nahm Djagilew 1924 George Balanchine in seine Dienste, der nach seiner Emigration aus Russland der letzte große Choreograph dieser Ära wurde. Balanchine schuf nach Einschätzung von Kritikern die „reinste Form des neoklassischen Balletts“. Heute gilt Djagilews Ballettensemble nicht nur als Ursprung einer ästhetischen Revolution. Djagilew ist aus Sicht vieler auch Erfinder des modernen Tourneegeschäfts, das ohne staatliche Subventionen auskommen und sich nach dem Markt richten musste.

Sich selbst soll er einmal so charakterisiert haben: „Erstens bin ich ein großer Scharlatan; zweitens ein großer Charmeur; drittens bin ich ziemlich dreist; viertens bin ich ein Mann mit erheblicher Logik und wenigen Prinzipien - und fünftens sieht es so aus, als habe ich kein wirkliches Talent. Trotzdem denke ich, habe ich meine wahre Berufung gefunden: ein Schutzherr der Künste zu sein.“ 1929 starb Djagilew in Venedig.

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