Viele Fragen bleiben offen
Der als angesehener Senator auf Lebenszeit mit 94 Jahren verstorbene ehemalige italienische Regierungschef Giulio Andreotti war einer der einflussreichsten und umstrittensten Figuren der italienischen Politik. Er stand wegen mutmaßlicher Mafia-Verbindungen und Mordverdachts vor Gericht, beweisen konnte man ihm aber nichts. Trotzdem blieben viele Fragen offen.
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Welche Abgründe sich auftun, wenn man dem politischen Werdegang des Spitzenpolitikers nachgeht, das versuchte Regine Igel in ihrem Buch „Andreotti - Politik zwischen Geheimdienst und Mafia“ (1997) zu beschreiben. Das Buch liest sich wie ein Polit-Gruselthriller, in dem Geheim- und Untergrundgruppen sowie CIA-Agenten menschenverachtende Bluttaten begehen - um Andreottis Machtsystem zu erhalten.
Abwehrkampf gegen Italiens KP
Rechter und linker Terror, die Geheimdienste und ihre „Parallelorganisationen“ wie Gladio, die berüchtigte Geheimloge P2, Mafia-Morde, „gekillte“ Urteile gegen Cosa-Nostra-Angehörige, der Tod Aldo Moros - sie haben letztlich gemeinsame Wurzeln: den Abwehrkampf gegen den Kommunismus.
Als Garant der Loyalität des strategisch wichtigen Landes mit starker KP bot sich nach dem Krieg die Democrazia Cristiana (DC) den USA an. Die Partei, in der Andreotti zunehmend an Einfluss gewann, hatte vielfältige Verbindungen - auch zum Vatikan, zum Geheimdienst und zur Mafia. Letztere hatte ihrerseits den Amerikanern bei der Landung in Sizilien und später gegen die Kommunisten geholfen.
Um US-Interessen und die Macht der DC zu sichern, ließ man bestimmten Geheimdienstkreisen freie Hand. Diese sollten ab den 1960er Jahren in Zusammenspiel mit Rechtsextremisten die kommunistische Gefahr auf „unorthodoxe Weise“ bekämpfen - in Form einer „Strategie der Spannung“. Je mehr KP-Stimmen bei Wahlen, desto mehr Attentate. Bei manchen der gegen völlig Unbeteiligte gerichteten Anschläge wie 1969 in einer Mailänder Bank mit 16 Toten versuchten die Behörden, die Schuld Anarchisten anzulasten - wie sich später meist herausstellte, zu Unrecht.
Fall Aldo Moro
Auch der „rote Terror“ der „bleiernen“ 70er Jahre ging auf die Strategie der Spannung zurück. Eklatantestes Beispiel ist die Entführung und Ermordung des DC-Präsidenten Aldo Moro 1978, der sich für den „historischen Kompromiss“, der Zusammenarbeit zwischen der DC und der mittlerweile „eurokommunistischen“ PCI eingesetzt hatte. Auch viele andere der von den Roten Brigaden ermordeten Politiker, Richter und Polizisten scheinen - wie spätere Untersuchungen ergaben - über die Hintergründe der Terrorwelle zu viel gewusst zu haben oder Andreottis Politik im Wege gestanden zu sein.
Oft passierten bei „unorthodoxen“ Einsätzen gravierende Fehler mit tödlichen Folgen für Unbeteiligte. Peinliche wie blutige Vertuschungsaktionen folgten. Beispielsweise der ungeklärte „Absturz“ einer Passagiermaschine vor Ustica bei Sizilien 1980: Einige Indizien deuten darauf hin, dass in US-Auftrag und mit Wissen Roms das Flugzeug von Libyens Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi abgeschossen werden sollte, aber ein anderes „Objekt“ getroffen wurde.
Jahrzehntelang den Staat kontrolliert
Koordiniert wurde die Geheimpolitik von okkulten Gruppen wie Gladio und der Freimaurerloge P2, finanziert von mafiösen Geldinstituten wie dem Banco Ambrosiano. Andreottis Vertrauensleute waren dort überall vertreten. Unbequeme Mitwisser oder Aufdecker wurden beseitigt, wie der Journalist Mino Pecorelli. Andreotti wurde verdächtigt, seine Ermordung angeordnet zu haben, von diesem Verdacht aber vom Gericht freigesprochen.
Am beunruhigendsten erscheinen die offensichtlichen Verbindungen des fledermausohrigen Staatsmannes zur Ehrenwerten Gesellschaft, die Andreotti hartnäckig leugnete. Könnte ein Schutzherr der Mafia oder gar ein „Pate“ jahrzehntelang den italienischen Staat weitgehend kontrolliert haben?
Nicht nur die Aussagen der ermordeten Mafia-Jäger Giovanni Falcone und Paolo Borsellino sowie des Kronzeugen und Ex-Mafioso Tommaso Buscetta weisen in diese Richtung. Andreottis eigene wortreiche Beteuerungen, er wisse nichts, kenne niemanden und habe stets die Mafia bekämpft, schienen den Verdacht noch zu erhärten. Doch ob er wirklich Verbindungen zu Mafia, Geheimdiensten oder Auftragsmördern hatte, dieses Geheimnis wird Andreotti mit ins Grab nehmen.
Paul Zabloudil/APA