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Scharfe Kritik aus Brüssel

Die Schweiz begrenzt für mindestens ein Jahr die Zuwanderung für Bürger aus den 17 alten EU-Mitgliedsländern und damit auch aus Deutschland und Österreich. Die EU meldete Zweifel an der Sinnhaftigkeit der hier angewandten „Ventilklausel“ an, und auch innerschweizerisch ist die Maßnahme höchst umstritten.

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Wegen des starken Zustroms von EU-Bürgern schränkt die Schweiz die Personenfreizügigkeit nun für alle Staaten der Europäischen Union ein. Das Zauberwort heißt „Ventilklausel“. Das 2002 in Kraft getretene Freizügigkeitsabkommen mit der EU erlaubt es der Schweiz, nach Ablauf der Übergangsfristen wieder Kontingente einzuführen.

Frist läuft in einem Jahr aus

Die Schweizer Regierung hat die „Ventilklausel“ erst einmal angewendet, und zwar 2012 für Angehörige der EU-8. Betroffen waren davon Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn. Nun soll die Reglementierung auch auf die restlichen 17 EU-Länder ausgeweitet werden. Die Schutzklausel läuft bereits Ende Mai 2014 aus, für Bulgarien und Rumänien im Mai 2019.

Die „Ventilklausel“

Die Klausel ist im Abkommen der Schweiz mit den EU-Staaten enthalten. Sie kann in Kraft treten, wenn die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen in einem Jahr mindestens zehn Prozent über dem Durchschnitt der vergangenen drei Jahre liegt.

Insgesamt soll die Zahl der Fünfjahresbewilligungen für Bürger der EU-17-Staaten zunächst für ein Jahr auf maximal 53.700 sowie für die EU-8-Staaten auf 2.180 beschränkt werden. Die „Ventilklausel“ werde angewandt, um die Zuwanderung aus dem EU-Raum „wirtschafts- und gesellschaftsverträglich zu gestalten“, erklärte die Regierung.

„Kein unfreundlicher Akt gegenüber der EU“

Die Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga betonte, dass die Entscheidung „kein unfreundlicher Akt gegenüber der EU“ sei. Schließlich sei die „Ventilklausel“ in dem Abkommen mit der EU enthalten. Die Regierung in Bern stehe weiterhin „voll und ganz hinter der Personenfreizügigkeit“. Zugleich räumte sie ein, dass die „Ventilklausel“ die Probleme der Zuwanderung in die Schweiz nicht lösen könne. Es brauche verschiedene politische Maßnahmen, um diese Probleme zu lösen.

Vielmehr sei die „Ventilklausel“ ein Signal an die Bevölkerung, dass man die Problematik der wachsenden Zuwanderung ernst nehme, heißt es aus der Regierung. Wegen der wachsenden sozialen Ungleichheiten sei die Schweiz „ein Anziehungspunkt“, begründete Sommaruga den doch überraschenden Schritt des Bundesrates.

Karas: Schweiz will sich „Rosinen herauspicken“

In Brüssel löste die Berner Entscheidung wenig Freude aus. Der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz, erklärte am Mittwoch, er nehme die souveräne Entscheidung des Bundesrats zur Kenntnis und werde diese „selbstverständlich respektieren“, so Schulz gegenüber der Schweizer Nachrichtenagentur sda. Er äußerte jedoch „Zweifel an der Sinnhaftigkeit der ‚Ventilklausel‘“. Sie habe seiner Ansicht nach eher „symbolpolitischen Charakter“.

„Die EU misst der Personenfreizügigkeit im Kontext der gesamten Beziehungen zur Schweiz eine hohe Bedeutung zu“, teilte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton in Brüssel mit. Rechtlich bewegt sich die Schweiz nach Ansicht Ashtons auf dünnem Eis: „Die Maßnahmen, welche die Schweizer Regierung heute beschlossen hat, widersprechen dem Abkommen, da sie zwischen unterschiedlichen Gruppen von Mitgliedstaaten unterscheiden.“

Der Vizepräsident des Europaparlaments, Othmar Karas, warnte vor dem Eindruck, „die Schweiz wolle sich bei der Teilnahme am EU-Binnenmarkt nur die Rosinen herauspicken“. „Die enge wirtschaftliche Verzahnung mit der EU nützt der Schweiz. Mit der heutigen Entscheidung schadet die Schweiz sich selbst“, teilte der ÖVP-Politiker in einer Aussendung mit.

„Ventilklausel“ lange Zankapfel

Tatsächlich räumte auch die Schweizer Regierung ein, dass sich mit der Klausel die Zuwanderungsprobleme nicht lösen ließen. Als man 2012 das Freizügigkeitsabkommen mit den acht „neuen“ EU-Ländern aufkündigte, gingen zwar die B-Bewilligungen (für fünf Jahre) um fast die Hälfte zurück, dafür stieg aber gleichzeitig die Zahl der nicht kontingentierten L-Bewilligungen (Kurzaufenthalter) um nahezu 50 Prozent, so dass die Wirkung der Klausel weitgehend verpuffte. Die L-Bewilligungen werden auch künftig weder für die EU-8 noch für die EU-17 limitiert.

Innenpolitisch ist die „Ventilklausel“ schon länger ein Zankapfel. Viele bürgerliche Politiker befürworten das Instrument. Damit werde ein Versprechen an die Bevölkerung umgesetzt, argumentieren sie. Die Linke dagegen ist der Ansicht, die Klausel nütze nicht viel. Sie fordert stattdessen stärkere flankierende Maßnahmen zur Personenfreizügigkeit. Ablehnend äußern sich auch Wirtschaftsverbände.

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