„Berufung gegen alles möglich“
Mit einem Freispruch in zweiter Instanz hat im Oktober 2011 einer der spektakulärsten Mordprozesse Italiens sein vermeintliches Ende gefunden. Die Rechnung wurde ohne das Höchstgericht gemacht, das mit der Annullierung des Verfahrens für einen Paukenschlag sorgte. Dass ein mehrjähriges Verfahren neu aufgerollt werden muss, ist in Italien allerdings alles andere als ein Einzelfall.
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Beispiellos erscheint beim Mordprozess rund um die 2007 in Perugia ermordete Austauschstudentin Meredith Kercher lediglich die internationale Aufmerksamkeit, die der Fall selbst und damit auch der Spruch des Obersten Kassationsgerichts mit sich gezogen hat. So wie die bereits in die USA zurückgekehrte Amanda Knox und ihr ins Schweizer Tessin gezogene Ex-Freund Raffaele Sollecito zählt derzeit auch Alberto Stasi zu den prominentesten Angeklagten, die sich mit einer Neuauflage eines Prozesses konfrontiert sehen.

Corbis/Art on File
Der Sitz des italienischen Kassationsgerichtshofs in Rom
Anders als bei Knox und Sollecito, die nach einem Schuldspruch erst in zweiter Instanz freigesprochen wurden, sahen es bei Stasi gleich zwei Instanzen als erwiesen an, dass der mittlerweile 24-jährige Student im August 2007 seine Freundin nicht ermordet hat. Erneut aufgerollt werden könnte - in diesem Fall nach zwei Schuldsprüchen - aber auch der Mafia-Prozess gegen den Intimus von Italiens Ex-Premier Silvio Berlusconi, Marcello Dell’Utri. Eine Entscheidung des Obersten Gerichts steht in diesem Fall allerdings noch aus.
Über 8.000 Fälle allein 2012
Diese drei Fälle gelten nun als Anlass für eine Debatte über Italiens Justizsystem, das angesichts seiner endlos erscheinenden Verfahren ohnehin seit Jahren auf eine Reform wartet. Allein 2012 wurden über 8.000 Urteile bzw. richterliche Anweisungen und damit knapp zehn Prozent der rund 80.000 berufenen Verfahren vom Kassationsgericht kassiert. Bei 4.716 Fällen muss laut dem Nachrichtenportal Linchiesta ganz von vorne verhandelt werden, 4.047 Annullierungen wurden urteilslos zu den Akten gelegt.
Die rechtliche Grundlage hinter der Flut an Berufungen findet sich im Verfassungsartikel 111, der vorsieht, dass gegen sämtliche „Urteile und Maßnahmen, die die persönliche Freiheit betreffen und von ordentlichen oder besonderen Gerichten gefällt wurden, stets die Berufung an den Kassationshof wegen Gesetzesverletzung zulässig“ sei. Eine Berufung sei in Italien somit gegen alles möglich, so Linchiesta weiter.
„Angemessene Verfahrensdauer“
Im Visier der obersten Richter stehen hier zunächst Verfahrens- und Formalfehler und nur in Ausnahmefällen der Fall selbst. Beim Mordfall Kercher wurde den Richtern jedoch eine „seltene Mischung aus Gesetzesverstößen und logischen Fehlern“ vorgeworfen. Mit Spannung wird nun auf die genaue Urteilsbegründung gewartet - gesetzlich vorgegebener Zeitrahmen: 90 Tage.
Wann mit einem neuen Prozessstart und schließlich einem weiteren Urteil zu rechnen ist, scheint angesichts des komplexen Prozedere derzeit offen. Der Fall sei somit aus Sicht der Tageszeitung „Blitz“ beispielhaft für die prekäre Lage in einem Land, „wo Urteile keine Urteile und Schuldige keine Schuldigen sind“.
Von einer „angemessenen Verfahrensdauer“, die per Verfassungszusatz seit 1999 gesetzlich festgeschrieben ist, könne auch mit Blick auf die rund 130.000 verjährten Verfahren pro Jahr keine Rede sein. Dass Knox, Sollecito und Stasi nach mehrjährigen Verfahren und über fünf Jahre nach den ihnen vorgeworfenen Taten nun wieder am Anfang eines Prozessmarathons stehen, könne somit nur als ein Teil der „Chronik des Landes der Nichturteile“ betrachtet werden.
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