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„Das Unsichtbare sichtbar machen“

Der Würzburger Germanist und Jean-Paul-Experte Helmut Pfotenhauer erklärt im Gespräch mit ORF.at, warum man den modernen Roman eigentlich mit Jean Paul und nicht James Joyce beginnen lassen müsste. Jean Paul habe die deutsche Literatur auf ungeahnte Höhen geführt und gerade Bereichen wie der inneren Traumwelt erstmals eine sprachliche Gestalt gegeben.

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ORF.at: Müsste man die Moderne im Roman nicht erst mit dem „Ulysses“ eines James Joyce, sondern bereits mit Jean Paul beginnen lassen?

Helmut Pfotenhauer: Das würde ich sagen. Bei Jean Paul sind viele Schreibweisen, die ab Beginn des 20. Jahrhunderts als revolutionär galten, schon vorhanden. Jean Paul ist ein ästhetisch raffinierter, ja durchtriebener Autor, der eigentlich uneinholbar ist in seinen Reflexionspotenzialen.

Bei Jean Paul wird es wirklich komplex, gerade was alle Fragen rund um den Aspekt der Konstruktion des Ichs anlangt. Dieses Ich ist so raffiniert und aus so vielen Blickwinkeln angelegt, dass man, wie Navid Kermani sagt, bei Jean Paul nicht die vorweggenommene, sondern bereits übertroffene Postmoderne vorfindet.

ORF.at: Sie beschreiben in Ihrer Jean-Paul-Biografie das Interesse des Autors für die gedankliche Halbwelt vor dem Einschlafen, vor dem Träumen. Liegen das Moderne und die Herausforderung bei Jean Paul auch in der Übersetzung dieser Halbtraumwelt zum Text?

Pfotenhauer: In der Wahrnehmungspsychologie und in der Medizingeschichte hat man ja mittlerweile festgehalten, dass Jean Paul in diesem Bereich Pionierarbeit geleistet hat. Jean Paul interessiert sich für die Halbschlafwelt, weil sich in diesem Bereich Bilder einstellen, die nicht eine äußere Wirklichkeit abbilden, sondern die eine innere Welt erschaffen, die also zugleich etwas über den Schöpfungsprozess aussagen und über Kreativität. Das ist gerade auch aus ästhetischen Gesichtspunkten bemerkenswert. Hier ist er Pionier, einerseits durch Selbstbeobachtung und andererseits durch Rückgriff auf frühere Studien, etwa die von Karl Philipp Moritz.

ORF.at: Vielen ist Jean Paul ja unverständlich geblieben. Und der Autor kommt selbst früh zur Erkenntnis des Ungenügens der Sprache in Anbetracht der Wirklichkeit. Wie steht es um diese eigentümlichen Begriffswelten Jean Pauls? Und wie ist mit seinem Witz umzugehen?

Pfotenhauer: Der Witz ist bei Jean Paul Mittel, die Allmacht des Autors zu demonstrieren - gerade in der Art, wie er verschiedene Wissensgebiete in nachgerade abstruser Gelehrsamkeit zusammenspannt. Zugleich gibt es diese ständige Suche nach Worten, nach Bildern, um das Unaussprechliche aussprechen zu können. Jean Paul agiert immer an der Grenze der Sprache, geht es bei ihm doch um die literarische Gestaltung dieser metaphysischen Verunsicherung seiner Zeit.

Er ist Pfarrerssohn, kann aber nicht mehr glauben. Es gibt keine Gewissheiten in dieser Welt. Deshalb muss sich der Autor eine zweite Welt erfinden, und hier geht es um die Frage, wie diese zweite Welt in Sprache greifbar zu machen ist. Das ist das große Thema von Jean Paul. Deshalb ist seine Sprache so bilderreich, so experimentell und geht über alles, was der Anschauung und Versprachlichung damals geläufig war, hinaus. Er will bis zum Äußersten gehen und das Unsichtbare sichtbar machen.

ORF.at: Warum kommt Jean Paul so früh auf die Idee, Schriftsteller zu werden?

Pfotenhauer: Er sollte ja zuerst Theologe werden. Doch in der Theologie hat er sich nicht zurechtgefunden, weil er sich diese Glaubensgrundsätze nicht mehr zu eigen machen kann. Und direkt danach beschließt er, Schriftsteller zu werden, zunächst Satiriker und dann Romanschriftsteller. Er war ja einer der ersten Schriftsteller, der sich nur vom Schreiben ernährt und der nur für den Markt geschrieben haben - ohne Rückhalt in einem bürgerlichen Beruf oder durch einen Mäzen.

Das ist also sein Projekt: sein Leben in die Hand zu nehmen und auf eine zweite verbürgte Existenz zu verzichten. In gewisser Weise ist es das Projekt, sich mit der Feder Unendlichkeit zu erschreiben. Er war in diesem Sinn sehr radikal, und für dieses Experiment muss er teils in ärmlichsten Verhältnissen leben. 15 Jahre nagt er am Hungertuch, bevor er ab Mitte der 1790er Jahre mit seinen ersten Romanerfolgen vom Schreiben halbwegs leben kann.

ORF.at: Woher kommt bei Jean Paul die Begeisterung für Schrift, für Texte? Liegt das an der Erziehung durch den Vater, der Theologe ist? Und gibt es gerade wegen des Vaters auch ein frühes Erschrecken vor der Wirklichkeit?

Pfotenhauer: Ja, das ist beides richtig. Über den Vater kommt er sehr früh in Kontakt mit der Schrift, der Bibel. Teilweise auch mit Formen von Schrift, die er gar nicht versteht. Damit geht er spielerisch um und erdichtet sich einen eigenen kindlichen Schriftkosmos. Das machen seine späteren Käuze wie Wutz oder Fibel auch.

Er wird ständig mit dem Tod, der Hinfälligkeit des Menschen, konfrontiert. Er wird auf alle Beerdigungen mitgenommen. Der Vater setzt den Sohn von Anfang an dem Schrecken aus. Er schickt ihn in der Dunkelheit in die Kirche, um die Bibel dorthin zu bringen und um die Gespensterfurcht mit seinem Glauben bekämpfen zu lernen. Da entwickelt sich der Impuls, gegen diese Anfechtungen anzuschreiben.

ORF.at: Aus dieser engen Provinz zieht es Jean Paul schließlich in die Literatenrepublik, nach Weimar. Warum tut sich der Autor so schwer mit den etablierten literarischen Positionen?

Pfotenhauer: Jean Paul schickt Goethe bereits seine ersten beiden Romane, Kleist würde sagen „auf den Knien seines Herzens“. Goethe antwortet allerdings nicht. Jean Paul wird aber von Charlotte von Kalb Anfang 1796 nach Weimar eingeladen und fühlt sich ungemein geehrt. Inzwischen haben Schiller und Goethe den „Hesperus“ (Jean Pauls zweiter großer Roman, Anm.) untereinander ausgetauscht. Es ist ein großes Interesse an Jean Paul da, aber zugleich auch ein Nase-Rümpfen. Man sagt, der Autor hat nur Manier, aber keinen Stil. Er habe kein Maß und kein Ziel und mische die verschiedensten literarischen Formen.

Als er dann nach Weimar kommt, ist der junge Mann aus der fränkischen Provinz der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. Goethe und Schiller versuchen Jean Paul in der Auseinandersetzung mit Wieland und Herder auf ihre Seite zu ziehen, sie merken aber recht bald, dass Jean Paul eher Wieland und Herder zugeneigt ist. Jean Paul nimmt beim ersten Besuch am Frauenplan das Anwesen Goethes wie ein Museum wahr. Ihn fröstelt’s geradezu in diesem Haus und er sagt über Goethe sinngemäß: Alleine Kunstsachen wärmen noch sein Herz, sonst ist er nur noch Eis.

Entsprechend fremd ist er für Goethe und Schiller, „fremd wie aus dem Mond gefallen“, wie es in einem Brief von Schiller heißt. Nach Jean Pauls Zeit in Weimar kommt es dann auch zu den ersten literarischen Kontroversen. Goethe bezeichnet Jean Paul als „Chinesen in Rom“, der im klassischen Land nur seine Verzierungen anzubringen versucht. Jean Paul reagiert wie so oft mit der Literatur und erfindet den Kunstrat Fraischdörfer, einen kalten Ästhetizisten, der am liebsten Dörfer abbrennen würde, um die Schönheit der Flammen malen zu können.

Auch der Don Gaspard im „Titan“ wird nach diesem Modell als kalter Menschenmanipulator modelliert. Neben einer Ablehnung gibt es eine permanente Faszination von beiden. Goethe hat Jean Paul später als den großen Orientalen, soll heißen den Weltoffenen und damit Modernen der deutschen Literatur gewürdigt. Aber das Verhältnis bleibt stets ambivalent.

ORF.at: ... und ist dann auch nur über die Texte und nicht persönliche Begegnungen zu lösen.

Pfotenhauer: Ja, als man 1798 bei Goethe über das Weimarisch Tragische diskutiert, äußert sich Jean Paul abfällig über den „Wallenstein“. Goethe dreht als Reaktion eine Viertelstunde nur stumm den Teller.

ORF.at: Was ist das Ungeheuerliche der Texte Jean Pauls für die Zeitgenossen?

Pfotenhauer: Jean Paul ist zum einen ein witziger, humoristischer Autor. Er ist jemand, der die empfindsame Literatur auf einen neuen sprachlichen Höhepunkt gebracht hat. Und er ist in seinen Naturbeschreibungen jemand, der die sprachlichen Möglichkeiten, die damals in der deutschen Literatur gebräuchlich waren, überboten hat. Insofern hatte sein Schreiben etwas Unerhörtes. Viele haben ja die Romane nicht von Anfang bis Ende gelesen, sondern die großen sprachlichen Stellen gesucht. Und für die war er berühmt - und für seine sprachliche Kühnheit.

ORF.at: Wie erschließt man als Forscher den Textkosmos von Jean Paul, gerade den fast unendlich wirkenden Nachlass?

Pfotenhauer: Der Nachlass umfasst ca. 40.000 Seiten, davon allein 12.000 Seiten an Exzerpten, aus denen Jean Paul immer wieder geschöpft hat, um seine Romane auszustatten. Es ist ein unglaubliches Wissensreservoir, das er da angelegt hat, mit Registern und Registern zu Registern. Er schreibt einmal an seine Frau, als er verreist war: „Wenn ein Brand ausbricht, rette zuerst die Exzerpte.“ Er sagt nicht, rette zuerst dich oder die Kinder, sondern zuerst die Exzerpte.

ORF.at: Ist Jean Paul zugleich Archivar seiner selbst?

Pfotenhauer: Es ist tatsächlich so, dass Jean Paul gewisse Textsorten, etwa seine Todesvisionen, auf Vorrat schreibt, man könnte sagen, er legt gewisse Textsammlungen an, die dann immer wieder in den Romanen vernetzt werden können. In der neueren Forschung wird oft darauf hingewiesen, dass Jean Paul eine frühe Form von Hypertext-Struktur entwickelt: also dieses Aufbauen von Texten aus Textsammlungen, die dann immer wieder neu vernetzt werden.

Gleichzeitig braucht er ein System von Suchfunktionen, um sich diese Masse von Texten, die er angelegt hat, zur Verfügung zu halten. Jean Paul stützt sich auf dieses Repositorium von Texten. Auf der anderen Seite hat er keine Bücher besessen. Für ihn waren die Keimzellen des Schreibens wichtiger als das fertige Werk.

ORF.at: Bei welchen Autoren der Gegenwart sehen Sie Spuren von Jean Paul?

Pfotenhauer: Navid Kermani hat seine Frankfurter Poetikvorlesung über Jean Paul gehalten, und auch in „Dein Name“ kommt Jean Paul auf Schritt und Tritt vor. Und hier kann man sehr gut sehen, was einen zeitgenössischen Autor an Jean Paul interessiert: Es ist das nichtlineare Schreiben, die von Zufällen abhängende Schreibsituation. Hier geht es immer um die Schwierigkeit, ein Ich zu schaffen, ein Leben zu schreiben.

Auf der anderen Seite gibt es einen Autor wie Walter Kappacher, der mehr an der metaphysischen Ausrichtung von Jean Paul interessiert ist, allerdings hier auch im Sinn von essayistischen Versuchen, das Thema Glaubensverunsicherung immer wieder aus neuen Perspektiven anzugehen. Auch Eckhard Henscheid hat sein Drumherum-Schreiben im Gegensatz zum Geradeaus-Schreiben mit Bezug auf Jean Paul entwickelt. Jean Paul ist natürlich ein Autoren-Autor und ein Wissenschaftsautor. Gerade diese Schwierigkeiten reizen aber die Forschung.

Das Gespräch führte Gerald Heidegger, ORF.at