Gedenkakt in Hofburg
Am 12. März hat sich zum 75. Mal der Einmarsch von Adolf Hitlers Truppen in Österreich gejährt. Mit einem Gedenkakt in der Hofburg, einer Lesung im Nationalrat und weiteren Veranstaltungen gedachte das offizielle Österreich der im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung weiter tief verankerten Ereignisse. Aus Historikersicht sind diese zuletzt dennoch zunehmend aus dem Fokus geraten.
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Während früher der Jahrestag der von Hitler als „Anschluss“ bezeichneten Eingliederung Österreichs in Nazi-Deutschland immer wieder Anlass war, sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, steht heute laut dem Wiener Zeithistoriker Oliver Rathkolb die Auseinandersetzung mit dem Holocaust im Zentrum der Erinnerung. „Man lässt die Vorgeschichte gerne weg und blendet gleich in die Verfolgungs- und Vernichtungsphase des europäischen Judentums“, so Rathkolb weiter.

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Hitler am 14. März bei seiner Ankunft in Wien
Abschied vom Opfermythos
Nicht nur in der Geschichtspolitik, auch im kollektiven Gedächtnis Österreichs nehmen die Ereignisse um den „Anschluss“ Österreichs, einen wichtigen Platz ein. Fühlte man sich während und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als erstes Opfer Nazi-Deutschlands, nahm im Zuge der Diskussionen über die Bundespräsidentenwahl von Kurt Waldheim das Erinnern eine neue Richtung. Erstmals verabschiedeten sich nicht nur das offizielle Österreich, sondern auch breitere Teile der Bevölkerung von der dominierenden Opferdoktrin und erkannten eine Mitschuld Österreich an den Ereignissen an.
„Wilde Arisierungen“
Aus seiner Sicht wäre es allerdings „ganz gut, wieder einige Schritte zurückzugehen und den Beginn dieser Auseinandersetzungen zu sehen“, da damit „auch die gesellschaftliche Verantwortung viel deutlicher wird“. Grund dafür sei etwa, dass es in den ersten Wochen und Monaten nach dem „Anschluss“ zu heftigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen kam, beispielsweise in Form „wilder Arisierungen“, bei denen Österreicher ihre jüdischen Nachbarn ausplünderten und vertrieben.
Für eine „anders gewandte österreichische Geschichte“ müsse laut Rathkolb der „Anschluss“ noch einmal thematisiert, kritisch gelesen und auf die gesellschaftliche und regionale Ebene projiziert werden. Dadurch würden auch die „Verhaltensweisen der Individuen im Umfeld der Opfer des Nationalsozialismus“ wesentlich deutlicher werden. Bisher habe man es allerdings mit einem Zeitabschnitt zu tun, der „gerne aus der offiziellen Geschichte ausgeblendet wird“.

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Zahllose Juden besorgten sich nach Hitlers Machtübernahme (im Bild das polnische Konsulat in Wien) die notwendigen Dokumente für die Flucht aus Österreich
Nicht alle Österreicher Täter
Erinnert wird von Rathkolb in diesem Zusammenhang auch daran, dass der „Anschluss“ lange durch die Opferdoktrin überlagert wurde. „Man hat Geschichte von oben diktiert, die berühmten Propagandabilder der Nationalsozialisten verwendet und kommentiert und dabei die Folie dahinter nicht genau thematisiert.“ Offen blieb dadurch die Frage nach dem Verhalten des Einzelnen.
Nachdem im Zuge der Waldheim-Affäre die Opferdoktrin immer mehr hinterfragt wurde, ist diese laut Rathkolb im politischen Diskurs, aber auch innerhalb der breiten Öffentlichkeit nun mehrheitlich tot. Aufpassen müsse man nun aber, dass man sich mit einer reinen Täterdoktrin, nach der alle Österreicher Täter bzw. zumindest Mittäter sind, begnügt. „Das wäre gegenüber den politischen Gegnern der Nationalsozialisten und den Opfern der Nationalsozialisten höchst ungerecht und entspricht auch nicht dem vielschichtigen historischen Bild.“
Sendungshinweis
Der ORF erinnert mit einem umfangreichen Programmangebot in TV, Radio und Internet an die Ereignisse des Jahres 1938 - mehr dazu in programm.ORF.at.
Geht es nach dem britischen Historiker Peter Pulzer, der als Kind die Zeit von Hitlers Machtübernahme in Wien selbst miterlebte, wird mit dem Thema „Anschluss“ mittlerweile bereits „in einer viel sachlicheren Weise“ umgegangen: „Man denkt historisch genauer“, da vieles, was früher nicht erwähnt und tabuisiert worden sei, jetzt offener angesprochen werde. Dennoch ortet auch Pulzer weiter Aufklärungsbedarf, da man noch nicht am „wünschenswerten Ziel“ angelangt sei: Dieses „wäre ein weitverbreitetes Verständnis eines Vorgangs, der wirklich kein Ruhmesblatt ist“.
Schule vermittelt nun „differenzierteren Blick“
Auch aus Sicht des Historikers Werner Dreier, der das Vermittlungsprojekt Erinnern.at des Unterrichtsministeriums leitet, gibt es nach langem Vorherrschen der Opferthese und einer Gegenbewegung in den 1990ern mittlerweile - etwa mit Blick in Schulbücher - einen „differenzierteren Blick“. Österreich als „erstes Opfer“ der Nazis, Österreich als Land der Täter - dieses Gegensatzpaar gebe es heute nicht mehr. Heute sehe man sich demnach an, welcher Teil der Bevölkerung welchen Anteil an den Verbrechen der Nazis hatte, und ebenso, welche Österreicher unter den Opfern waren oder Widerstand gegen das System leisteten.
Auch Rathkolb ortet in diesem Zusammenhang einen Wandel in der Geschichtsforschung. Demnach sei ein Trend zu beobachten, der die Auseinandersetzung auf eine persönlichere und individuellere Ebene hebe: „Statt die kollektive Opfer- und Täterrolle Österreichs zu beleuchten, konzentriert man sich auf die Illustration von Einzelschicksalen, um Geschichte greifbar zu machen.“
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