Großangelegtes Fotoprojekt
2012 erschien Richard Ross’ Buch „Juvenile in Justice“ über Jugendliche im Strafvollzug der USA. Seine Bilder, die er über einen Zeitraum von sechs Jahren in zahlreichen US-Bundesstaaten angefertigt hat, zeigen vor allem Räume als Sackgassen. Mit rund 70.000 eingesperrten Jugendlichen im Tagesschnitt halten die USA den Spitzenplatz unter den westlichen Industriestaaten. Ross will das ändern.
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„Es war schwer, an diese Orte zu kommen“, sagt Richard Ross, „in manchen Fällen hat es gut eineinhalb Jahre gedauert, bis ich die Genehmigung bekommen habe.“ Für eine Ausstellung seiner Bilder ist Richard Ross nach Wien gereist, wo ORF.at Gelegenheit hatte, mit ihm über sein Projekt zu sprechen. Die Bilder an den weißen Galeriewänden zeigen Zellen, manche von ihnen leer, viele von ihnen mit ihren Insassen. Die Gesichter der Kinder und Jugendlichen sind unkenntlich gemacht, entweder verwaschen durch Bewegungsunschärfe oder verdeckt von Händen oder Haaren.

Richard Ross
Der zwölfjährige N. R. im Douglas County Juvenile Detention Center, Lawrence, Kansas. Er muss wegen Schlägereien in der Schule, Beschädigung eines Autos und Weigerung, im Polizeifahrzeug den Sicherheitsgurt anzulegen, zwei Wochen einsitzen.
„Ich will nicht, dass die Kinder später mit diesen Fotos konfrontiert werden“, sagt Ross, „viele von ihnen schaffen es, als Erwachsene ein normales Leben zu führen. Außerdem hilft es mir dabei, die Fotogenehmigung zu bekommen.“ Die Anonymisierung funktioniert auch als künstlerische Strategie: „Ich will zeigen, dass jeder in diesem System landen kann, auch die Kinder der Betrachter.“
Siebenjährige in Gewahrsam
Die Schwellen dafür liegen in der Tat nicht besonders hoch, wie Ross berichtet: „In 22 US-Bundesstaaten sowie im Hauptstadtbezirk Washington D.C. ist es den Behörden erlaubt, bereits Kinder ab dem Alter von sieben wegzusperren. Bei meinen Recherchen bin ich nicht vielen Siebenjährigen begegnet, aber dafür vielen Zehnjährigen.“ Der Strafvollzug ist in den USA auf Ebene der Bundesstaaten geregelt. „In manchen Staaten bleiben die Jugendlichen bis zum Alter von 25 Jahren im Jugendgefängnis, in anderen können sie auch direkt in Strafanstalten für Erwachsene kommen“, so der Fotograf.
Ausstellung in Wien
Eine Auswahl der Bilder von Richard Ross ist von 15. März bis 30. April in der Anzenberger Gallery, Absberggasse 27, 1100 Wien (Gelände der alten Ankerbrot-Fabrik) zu sehen (siehe Link am Fuß des Artikels). Der Eintritt ist frei.
Das hat Folgen: „Die Jugendlichen sind extrem gefährdet. Wenn sie im harten Strafvollzug für Erwachsene landen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie in Haft Suizid begehen, 36-mal höher als in spezialisierten Jugendgefängnissen.“ Ross ist engagiert, aber sein Blick außerordentlich kühl. Seine Bilder zeigen Kinder, die wegen Nichtigkeiten eingesperrt wurden, aber auch jugendliche Mörder, gehärtete Mitglieder krimineller Banden. Jedem Foto, auf dem eine Person abgebildet ist, stellt Ross einen Ausschnitt aus seinem Gespräch mit ihr beiseite. Er dokumentiert Freizeit, Umgebung und Ernährung der Häftlinge.

Richard Ross
Der 17-jährige R. F. in seiner Zelle im Turner Guilford Knight Correctional Center, Miami, Florida. Das Gangmitglied sitzt zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits drei Jahre und zehn Monate im Gefängnis, ohne dass ihm der Prozess gemacht worden wäre. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm zwölf Verbrechen vor, darunter zwei bewaffnete Autoentführungen, bewaffnete Raubüberfälle und Einbrüche.
Aktivismus im Internet
„Ich gehe mit einer einfachen digitalen Spiegelreflexkamera und einem digitalen Audiorekorder zu den Leuten“, erzählt Ross, „aber mein wichtigstes Werkzeug ist mein Gewissen. Ich setze mich mit den Kindern zusammen und spreche mit ihnen.“ 2012 ist Ross nach fünf Jahren Arbeit mit seinem Material an die Öffentlichkeit gegangen, das renommierte „Harper’s Magazine“ widmete dem Projekt eine große Fotostrecke. „Es hat lange gedauert, bis ich genügend Material zusammenhatte“, so Ross, der hauptberuflich Kurse in Fotografie und Journalismus am Campus Santa Barbara der Universität von Kalifornien lehrt, „Irgendwann hat mein Redakteur gesagt, wir sollten raus damit.“

ORF.at/Günter Hack
Richard Ross
Abgeschlossen ist das Projekt für Ross damit keineswegs: „Ich mache im Internet weiter, auf meiner Website, auf Twitter, auf Facebook, im Blog. Ich veröffentliche pro Woche eine oder zwei Geschichten und halte den Kontakt mit Leuten, die sich für das Thema interessieren.“ Das Echo auf die Veröffentlichungen seitens des Gefängnispersonals sei geteilt gewesen, so Ross: „Ich habe stark polarisiert. Die einen haben sich sehr darüber gefreut, dass jemand sich mit dem Jugendstrafvollzug beschäftigt, sie laden mich ein, bestellen mein Buch und verteilen es sogar an die Entscheidungsträger in der Politik. Die andere Fraktion sagt: Der kommt uns nicht rein.“
Hohe Kosten
Die oft kritisierte Privatisierung des Strafvollzugs in den USA spiele im Jugendbereich keine so große Rolle, sagt Ross: „Die meisten Jugendstrafanstalten werden vom Staat betrieben. Aber auch hier gibt es falsche Anreize dafür, möglichst viele Menschen einzusperren. Die Angestellten sind gut gewerkschaftlich organisiert und wollen beschäftigt werden.“
In der weltweiten Finanzkrise jedoch ist das System an die Grenzen seiner Kapazität gelangt. Im Vorwort zu Ross’ Buch rechnet der US-Jugendstrafrechtsexperte Bart Lubow vor, dass es den Staat 88.000 US-Dollar (68.000 Euro) kostet, einen Straftäter ein Jahr lang in ein Jugendgefängnis zu sperren, während die Ausbildung an einer höheren staatlichen Schule mit 8.000 Dollar pro Jahr zu Buche schlägt.

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Typologie der Gefängniszellen: „Juvenile in Justice“ in der Anzenberger Gallery, Wien
Fotos sollen überzeugen
Ross ergänzt: „Der Staat Kalifornien zahlt 224.712 Dollar pro Jahr für einen Platz in der neuen Jugendstrafanstalt in Oakland. Dieselbe Stadt hat zuletzt knapp 5.000 Dollar pro Jahr für einen Platz im öffentlichen Schulsystem ausgegeben.“ Ihr Fazit: Es lohnt sich, in die Ausbildung vernachlässigter Jugendlicher zu investieren.
Obwohl Ross politisch US-Präsident Barack Obama nahesteht, glaubt er, dass das finanzielle Argument auch die Mitglieder der extrem konservativen „Tea-Party“ zum Nachdenken über die Effizienz des gegenwärtigen Jugendstrafsystems anregen könnte. Die Überzeugungskraft seiner Bilder hält er am Ende aber für stärker: „Wir haben viele Studien und Zahlen darüber, dass der Jugendstrafvollzug so nicht funktionieren kann. Meine Fotos haben aber den betroffenen Menschen ein Gesicht gegeben. Nun gibt es Bilder zu den Zahlen und Texten.“
Günter Hack, ORF.at
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